Das andere Kind
danach nie wieder dieselbe. Als Gordon McBright mich in diesem
Waldstück fast totschlug, habe ich neben allem anderen natürlich einen Schock erlitten,
jedenfalls sagten mir das die Psychologen. Ich war ziemlich lang in einer Klinik, Jahre später.
Wegen meiner anhaltenden Depressionen. Dort habe ich übrigens auch das Töpfern gelernt.
Kreatives Schaffen als Therapie. Glaube nicht, dass es mich psychisch weitergebracht hat, aber
ich kann mir ein kleines Zubrot zu meiner Rente damit verdiene n,
und das ist ja immerhin etw as. Ich war nie wieder arbeitsfähig, und
meine Ehe wurde 1977 geschieden. Ich bekomme eine Art Versehrtenrente als Opfer eines
Verbrechens. Nicht viel, aber ich brauche auch nicht viel. Na ja, und dann und wann ein paar
Pfund extra für diese schiefen Schüsseln und Tassen hier sind ganz schön.«
»Hatte Ihre Scheidung ... «
» ... mit der Somerville-Geschichte zu tun? Ja, das hatte sie. Wissen Sie, John hatte eine
fröhliche, energische, selbstbewusste Frau geheiratet, die mit beiden Beinen im Leben stand.
Nun hatte er ein zerbrochenes Wesen neben sich, eine Frau, die nicht aufhören konnte, von ihrem
Erlebnis am 19. Dezember 1970 zu sprechen. Die ständig über die Frage nachgrübelte, woher das
Böse in der Welt kommt und wie ihm zu begegnen ist. Die sich um Brian Somerville sorgte und
nicht damit fertig wurde, dass den Tätern überhaupt nichts passierte, dass sie weiterleben
durften, als sei nichts geschehen. Die überdies viele Operationen über sich ergehen lassen
musste, ständig Schmerzen hatte, oft ganz wirr war im Kopf von den vielen Medikamenten. Ich war
nicht mehr die Semira, in die er sich verliebt hatte. Ich nehme es ihm heute nicht mal übel,
dass schließlich eine andere Frau sein Herz und sein Leben eroberte. Er ist geradezu geflüchtet
vor mir. Wir hatten nie wieder Kontakt.«
Es war nachvollziehbar, fand Leslie. Und doch so grausam.
»Jedenfalls, wie ich sagte, mein Leben war geprägt von diesem Drama, und
anders als die Ärzte und Psychologen um mich herum bin ich der Ansicht, dass nicht der Angriff
auf mich, sondern der Anblick des angeketteten Brian in jenem Stall das Trauma ausgelöst hat.
Die Geschichte dieses Kindes, dieses später hilfl osen Mannes hat
mich nie wieder losgelassen. Ich konnte das nicht verarbeiten. Ich
wurde nicht fertig damit. Und deshalb suchte ich die beiden Menschen auf, die damit zu tun
hatten: Fiona Barnes und Chad Beckett. Immer wieder. Ich suchte Erklärungen. Ich wollte
begreifen. Ich wollte das alles loslassen können. Dazu musste ich verstehen, warum es hatte
passieren können. Und sehen Sie, dadurch, durch diese Gespräche, gewann ich die feste
Überzeugung, es hier mit zwei Menschen zu tun zu haben, die keineswegs unschuldig waren. Die
genau gewusst hatten, was sie taten. Die verantwortlich waren für das, was mit Brian Somerville
passiert war. Und indirekt auch für mein zerstörtes Leben.«
»Chad Beckett hat mit Ihnen gesprochen?«
»Selten. Wenig. Ein Fisch ist gesprächiger als er. Aber Fiona hat einige Male eingewilligt,
mich zu treffen. Sie hat manches erzählt. Ich glaube, sie suchte auch einen Weg, mit alldem
fertigzuwerden. Aber irgendwann wurde ich ihr lästig. Irgendwann wollte sie nichts mehr mit mir
zu tun ha-· ben. Seit 1979 legte sie den Hörer kommentarlos auf, wenn ich anrief. Wir haben
einander nie wieder gesehen. Aber ich wusste genug. Und anders als die Medien, anders als die
Polizei, verurteile ich Barnes und Beckett aus tiefstem Herzen. Das ist bis heute so. Was sie
getan haben, ist unverzeihlich. «
In Leslies Kopf ratterten die Gedanken.
Sie hatte ein Motiv. Von allen Menschen ringsum, die Valerie Almond verdächtigen mochte, Dave
Tanner zuallererst, hatte Semira das klarste, das einleuchtendste und nachvollziehbarste Motiv:
Rache. Für zwei zerstörte Leben. Das des Brian Somerville und ihr eigenes.
Leslie betrachtete die kleine dunkelhäutige Frau mit den glatten schwarzen
Haaren, in die sich viel Grau mischte, und mit den großen braunen Augen, die etwas davon verrieten, wie hübsch sie einmal
gewesen sein musste. Sie wirkte nicht wie jemand, der hadert, der innerlich verzehrt wird von
Hass und der Sehnsucht nach Genugtuung. Aber konnte man das einem Menschen immer ansehen? War
man nicht oft überrascht, wie harmlos und oft sogar unscheinbar gefährliche Verbrecher,
unberechenbare Psychopathen auf Fotos aussahen?
Eine Frage drängte sich ihr auf, sie beugte
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