Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Das andere Kind

Titel: Das andere Kind Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Das andere Kind
Vom Netzwerk:
lassen?«, vermutete Leslie.
    »Nein.«
    »Dave Tanner ist kein Journalist«, erklärte Leslie. »Seien Sie bitte nicht so
    vertrauensselig, Semira. Die Menschen sind nicht immer das, wofür sie sich ausgeben. Lassen Sie
    nicht jeden hier herein. Und erzählen Sie nicht alles, was Sie wissen.«
    Semira blickte sie voller Bestürzung an. »Aber wer ist dieser Dave Tanner denn
    dann?«
    Leslie winkte ab. »Das ist eigentlich egal. Wichtiger wäre es zu wissen,
    weshalb er hierhergekommen ist. Aber das werde ich h erausfinden.«
    »Aber Sie ... Sie haben mir die Wahrheit gesagt, oder? Sie sind wirklich Fiona Barnes'
    Enkelin?«
    »Leider ja«, sagte Leslie und trat hinaus auf die dunkle, steile Gasse.
    Sie konnte das Meer rauschen hören, laut und sehr nah. Die Flut hatte ihren Höhepunkt
    erreicht.
    Sie saß im Auto und versuchte die Gedanken zu sortieren, die ihr wild und ungeordnet durch den
    Kopf schossen. Welches Spiel spielte Dave Tanner? Sie hatte ihn am heutigen Morgen gefragt, ob
    er mit dem Namen Semira Newton etwas anfangen könne, und er hatte das rundweg verneint. Hatte
    völlig arglos dabei gewirkt.
    Nein. wer ist das?
    Es war zu diesem Moment gerade mal zwölf Stunden her, dass er bei ihr in
    Rob in Hood's Bay gesessen und sie ausgefragt hatte. Und jede Menge Einzelheiten offenbar bereits gekannt hatte. Was
    vermutlich bedeutete, dass er die Briefe von Fiona an Chad ebenfalls gelesen hatte. Hatte er
    sie sich heimlich beschafft? Hatte Gwen sie ihm gegeben?
    Gwen! Leslie schlug mit der flachen Hand auf das Lenkrad. Es war so typisch Gwen. Stöberte in
    den E- Mails ihres Vaters herum. Fand eine brisante Geschichte, die ganz eindeutig für niemand
    Außenstehenden bestimmt war. Druckte alles aus und zeigte es dann praktisch jedem, den sie
    kannte.
    Es war so unreif. So wenig erwachsen.
    Sei nicht ungerecht, Leslie, ermahnte sie sich selbst. Gwen wurde mit dem, was sie da lesen
    musste, nicht fertig. Sie musste mit jemandem darüber sprechen.
    Mit Dave?
    Der Mann immerhin, den sie heiraten würde. Zumindest war sie zu diesem Zeitpunkt davon
    ausgegangen. Konnte man es ihr verübeln, dass sie ihm etwas gezeigt hatte, was sie aufwühlte?
    Beschäftigte? Verunsicherte? Wie sehr mochte das Bild, das sie von ihrem Vater gehabt hatte,
    gelitten haben. Sie hatte den Ausdruck außerdem Jennifer gezeigt. Dann hatte Colin ihn
    bekommen. Und Colin hatte ihn ihr, Leslie, gezeigt. Die Verbreitungsmaschinerie hatte recht
    zügig zu arbeiten begonnen.
    Sie war völlig allein auf der Landstraße, die die Städte Scarborough und Whitby miteinander
    verband. Dunkelheit, schwarze, stille Wälder rechts und links. Der Lichtkegel ihrer
    Scheinwerfer erfasste die Straßenränder, einmal glühten die Augen eines Tieres, sie vermutete
    einen Fuchs. Sie realisierte, wie schnell sie fuhr, ging mit dem Tempo herunter. Niemand sollte
    sterben müssen, nur weil sie so aufgeregt war.
    Als sie einen breiten Wa ldweg links von sich
    bemerkte, bog sie kurz entschlossen ab und hielt an. Sie brauchte
    einen Moment
    Ruhe, musste überlegen.
    Sie lehnte sich in ihrem Sitz zurück, atmete tief durch. Dave hatte die Aufzeichnungen gelesen,
    oder Gwen hatte ihm alles erzählt, und daraufhin hatte er sich ein klareres Bild verschaffen
    wollen und Semira Newton aufgesucht. Genau wie sie selbst. Er hatte falsche Angaben zu seiner
    Person gemacht, aber auch das war verständlich; er hatte nicht wissen können, ob Semira
    überhaupt ein Wort mit ihm reden würde, wenn er sich nicht irgendeine bedeutungsvolle Rolle
    zulegte -und Journalist war nicht die schlechteste Idee bei einer Frau, von der man sich
    vorstellen konnte, dass sie unter der Art und Weise litt, mit der sang- und klanglos über eine
    Tragödie wie die des Brian Somerville hinweggegangen worden war.
    Und warum hat er mich angelogen?
    Weil ich Fionas Enkelin bin. Weil er nicht ahnen konnte, was genau ich alles weiß. Weil er
    nicht derjenige sein wollte, der mir etliche erschütternde Details über den Charakter meiner
    Großmutter erzählt.
    Sie schloss die Augen. Hinter ihren Lidern sah sie das Gesicht Semira Newtons. Die leicht
    aufgeschwemmten Züge, die verrieten, dass sie schon viel zu lange viel zu viele Medikamente
    nahm. Schmerzmittel vermutlich. Ihr Körper musste ein Trümmerhaufen gewesen sein, als man sie
    gefunden hatte. Mit Sicherheit gab es Tage, an denen sie schmerzhaft jeden Knochen, jeden
    Muskel spürte. Und jede Bewegung eine Qual war. Sie dachte an Gordon McBright.

Weitere Kostenlose Bücher