Das andere Kind
sich vor. »Semira, verzeihen Sie, wenn ich das
frage, aber um Klarheit zu gewinnen ... Haben Sie meine Großmutter noch manchmal angerufen?
Obwohl diese jeden Kontakt mit Ihnen inzwischen ablehnte? Haben Sie angerufen und einfach ...
in den Hörer geschwiegen?«
»Sie meinen, ob ich sie mit anonymen Anrufen drangsaliert habe?«, fragte
Semira. »Ja, das habe ich. Aber seit ein oder zwei Wochen erst. Und zuletzt am vergangenen
Dienstag, bevor ich in der Zeitung las, dass sie tot ist. Manchmal dachte ich, ich platze, und
ich hatte dieses Ventil entdeckt. Wenn ich entweder Brian Somerville wieder einmal in seinem
Elend besucht hatte oder wenn es mir schlecht ging, mein Körper mich piesackte oder die
Schwermut mich wieder einmal so richtig im Griff hatte, dann dachte ich: Warum soll es ihr so
gut gehen? Warum soll sie fröhlich vor sich hin leben und keinen Gedanken an das verschwenden,
was sie angerichtet hat? Und ja, ich gebe das ehrlich zu, dann befriedigte es mich schließlich
durchaus, ihre Stimme zu hören, die immer wieder fragte, wer denn dran sei am anderen Ende der
Leitung, und mit jeder Frage klang sie ein wenig hektischer und schriller, und hinterher ging
es mir ein wenig besser, und ich dachte: Nun bist du beunruhigt und grübelst, und
vielleicht fragst du dich, ob diese alte Geschichte, die du so gern vergessen würdest, dich noch einmal heimsuchen wird. Dann
war mein eigener Tag nicht mehr ganz so grau.«
»Ich verstehe«, sagte Leslie, und sie verstand es wirklich. Semira Newtons Leben war voller
Mühsal und Beschwerlichkeiten, und es war arm und einsam. Robin Hood's Bay war ein bezaubernder
Ort, aber er war sehr still im Herbst und im Winter, und sie wusste, dass im November und
Dezember der Nebel tagelang wie Blei über der Küste liegen konnte, alle Geräusche und Stimmen
schluckte, ohne Licht und ohne Farben war. Semira war dann allein in diesem schiefen, alten
Häuschen, mit Töpferarbeiten beschäftigt, die ihr vor dem nächsten Frühsommer kaum jemand
abkaufen würde ... Oder sie saß im Bus nach Whitby, um einen schwer geistig behinderten alten
Mann zu besuchen, der beharrlich wartete, dass der Mensch, der ihm sein Kommen vor mehr als
sechzig Jahren versprochen hatte, endlich auftauchen würde, und von dem sie wusste, dass er
vergeblich wartete. In welcher Stimmung kehrte sie von diesen Besuchen hierher zurück in ihre
düsteren kleinen Zimmer?
Leslie schauderte schon bei der Vorstellung.
Sie erhob sich, selbst ganz steif und ungelenk inzwischen vom langen Sitzen auf dem unbequemen
Schemel.
„Ich muss jetzt gehen«, sagte sie und streckte Semira ihre Hand hin, „und ich danke Ihnen, dass
Sie sich so viel Zeit für mich genommen haben, Semira. Und dass Sie so offen waren.«
„Ach, wissen Sie, ich habe wenig Abwechslung in meinem Leben«, erwiderte Semira freundlich.
Ihre Hand, mit der sie die von Leslie ergriff, war eiskalt. „Es ist nett, jemanden hierzuhaben.
Und reden zu können.« „Ich ... kann nicht ungeschehen machen, was meine Großmutter angerichtet
hat«, sagte Leslie, »aber ... es tut mir leid.
Es tut mir von ganzem Herzen leid, dass das alles passiert ist.«
»Das muss es doch nicht.« Auch Semira erhob sich mühsam. »Sie können doch gar nichts dafür! Ich
frage mich nur, was plötzlich los ist. Weshalb auf einmal so viel Interesse an dieser alten
Geschichte herrscht.«
Leslie, die sich schon zum Gehen hatte wenden wollen, hielt inne.
»Wie meinen Sie das? So viel Interesse?«
»Na ja, es ist komisch. Jahrzehntelang wollte niemand etwas von alldem wissen, und jetzt
tauchen innerhalb von zwei Tagen zwei Menschen hier auf und wollen sich alles ganz genau
erzählen lassen.«
Leslie hielt den Atem an vor Überraschung. »Wer denn noch?«
»Dieser Mann ... wie hieß er bloß? Gestern am späten Nachmittag war er da. Mr. Tanner, glaube
ich, oder so ähnlich.«
»Dave Tanner!«
»Genau. Dave. So hieß er. Dave Tanner. Journalist. Er wusste eine Menge, hatte alle alten
Archive durchstöbert, wie er erzählte. Aber von mir erhoffte er sich neue Details. Ich habe
lang mit ihm geredet. Es ist natürlich in meinem Interesse, wenn die Medien den Fall
aufgreifen.«
»Für welche Zeitung arbeitet er denn?«
Semira überlegte. »Das weiß ich gar nicht genau«, bekannte sie dann, »ich meine, er hat es mir
gesagt, aber ich habe wohl nicht richtig hingehört. Ist das wichtig?«
»Einen Presseausweis haben Sie sich dann auch nicht zeigen
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