Das andere Kind
Atmosphäre von Normalität, und gerade die schien ihr während der letzten Stunden
völlig abhanden gekommen zu sein.
Sie verließ das Wohnzimmer wieder und bemerkte den Lichtschein, der durch den Spalt unter der
Tür zum Arbeitszimmer durchschimmerte. Sie atmete tief auf Irgendjemand war daheim.
Sie klopfte an und trat ein. Erleichterung durchströmte sie, als sie Chad
sah, der am Schreibtisch saß und auf den Computerbildschirm starrte. Es war eiskalt im Zimmer,
aber das schien der alte Mann überhaupt nicht zu bemerken. Auch nicht, dass er ein viel zu
dünnes Baumwollhemd trug und keine Strümpfe an den Füßen, die in
offenen Filzpantoffeln steckten. Er war so konzentriert auf seinen
Computer, dass er auffuhr, als Leslie ihn ansprach. »Chad?« Er schien wie aus einer anderen
Welt zu kommen, starrte Leslie verständnislos an und sagte erst nach ein paar Sekunden des
Schweigens: »Ach, du bist es, Leslie.« »Entschuldige, dass ich dich erschreckt habe. Ich habe
gerufen, ich habe geklopft, aber ... «
»Ich war sehr vertieft«, erklärte Chad.
Sie konnte nicht erkennen, womit er sich beschäftigt hatte, aber sie ahnte es. »Fionas
Briefe?«
»Ich habe sie noch einmal gelesen«, sagte Chad. »Bevor ich sie löschen werde. Es ist nicht gut,
wenn sie ... anderen Menschen zugänglich sind.«
Sie verkniff es sich, ihm zu sagen, dass seine gesamte nähere U mgebung den Inhalt bereits detailliert
kannte.
»Ich war bei Semira Newton heute«, sagte sie und beobachtete sein Gesicht, während sie den
Namen aussprach. Es war, als falle sofort eine Maske darüber.
»Ach, ja?«
»Eine sehr kranke, sehr leidgeprüfte Frau.«
»Ja«, sagte er.
»Du weißt, dass Brian Somerville noch immer lebt?«
»Ich habe es vermutet.«
»Denkst du nicht, du könntest ... ich meine, ich würde dich hinfahren ...« »Nein.« Sie sah ihn
an. Er wich ihrem Blick nicht aus, blieb aber unzugänglich.
»Bist du ganz allein?«, fragte sie nach einem Moment, in dem sie einander nur gemustert hatten.
»Wo sind Jennifer und Colin? Wo ist Dave? Gwen?«
»Jennifer und Colin sind abgereist. Ganz
plötzlich. Heute am späten Nachmittag.«
»Warum das denn?« »Wahrscheinlich waren diese Ferien nicht recht nach ihrem Geschmack. Kann man ja verstehen.«
»Weiß DI Almond Bescheid?« »Keine Ahnung.« »Und Dave?« »Die wollten spazieren gehen. Er und
Gwen.« »Es ist schon ziemlich dunkel draußen!« Er sah zum Fenster hin. Ihm schien jetzt erst
aufzugeh en, dass langsam die Nacht
hereinbrach.
» Tatsächlich«, sagte er
überrascht.
»Wie spät ist es denn?« »Viertel nach sieben.« »Ach ... schon?« Er strich sich mit der Hand
über das Gesicht. Er hatte rote Augen vom angestrengten Lesen und vor Müdigkeit. »Dann sind sie
aber schon lange weg. Ich meine, es war gegen halb sechs, als sie aufbrachen.«
»Das war vor bald zwei Stunden. War alles in Ordnung zwischen ihnen?« Sie fragte sich, ob Dave
es getan hatte: Gwen gesagt, dass er sie verlassen würde. Oder hatte er sich diese Mitteilung
für den Spaziergang aufgehoben? Oder hatte er doch wieder Abstand von dem Plan
genommen?
»Ich weiß nicht«, sagte Chad unbestimmt, »ich denke ... na ja, was sollte nicht in Ordnung
gewesen sein?«
Sie sah ihn an und dachte: Gwen könnte sterben vor deinen Augen, und du
würdest es nicht merken. Ihre ganze verfahrene Lebenssituation begreifst du nicht, weil deine
Tochter es dir gar nicht wert ist, dich auch nur einen Moment lang mit ihr zu beschäftigen.
Dich hat es nicht einmal interessiert, den Mann näher kennenzulernen, mit dem sie den Rest
ihres Lebens ve rbringen wollte. Den Mann, der möglicherweise sehr gefährlich für sie ist, in jeglicher Hinsicht. Du merkst es nicht.
Du merkst nie etwas! Die Liebe, die sie dir ein Leben lang entgegengebracht hat, die ganze
verzweifelte Liebe einer Tochter zu ihrem Vater, der nach dem frühen Tod der Mutter ihr
einziger lebender Verwandter ist, diese Liebe hast du im Grunde nie verdient.
»Chad, du hast mir heute Mittag gesagt, dass die Polizei hier war und nach Dave Tanner gefragt
hat. Inzwischen weiß ich, dass eine Fahndung nach ihm läuft. Er hat kein Alibi für den
Todeszeitpunkt meiner Großmutter. Er hat die Polizei belogen.«
Chad sah sie nur an. Seine Lethargie machte Leslie rasend.
»Chad! Die Polizei sucht ihn! Sie waren auch hier bei dir! Und du lässt ihn mit deiner Tochter
einfach so losziehen, und zwei Stunden später fragst du dich immer noch
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