Das andere Kind
An den Mann, der
sein halbtotes Opfer im Wald hatte liegen lassen wie ein Stück Müll. Der Mann, der in der
Sicherheitsverwahrung gestorben war.
Fiona und Chad hatten Brian Somerville an einen Mann ausgeliefert, den später nicht einmal der
wohlwollendste psychiatrische Gutachter je wieder unter Menschen gelassen hatte. Sie öffnete
die Augen jetzt, weil die Bilder zu grausam und zu bedrängend wurden.
Zwei Menschen mit einem klaren Motiv, Fiona Barnes zu erschlagen und in eine bewaldete Schlucht
hinunterzustoßen: Brian Somerville. Und Semira Newton. Der eine musste zwischen siebzig und
achtzig Jahre alt sein, war geistig behindert und lebte in einer P£legeanstalt in Whitby. Die
andere war Mitte sechzig, konnte sich nur mit einer Gehhilfe mühsam vorwärtsbewegen.
»Alle beide können es nicht getan haben«, sagte Leslie laut in die Dunkelheit hinein. Aber sie
konnten jemanden dafür bezahlt haben - zumindest Semira Newton.
Dave Tanner? Aber Dave Tanner hatte Semira erst am Vortag aufgesucht. Mehrere Tage nachdem
Fiona ermordet worden war. Abgesehen davon: Würde Dave Tanner für Geld morden? Der Dave Tanner,
den sie kannte?
Den sie eben nicht kannte, wenn sie ehrlich war. Sie mochte ihn. Aber sie kannte ihn nicht, und
einen Moment lang dachte sie verwundert, dass sich dies eigenartigerweise gegenseitig nicht
ausschloss.
Eines war ihr klar: Es war nicht länger in Ordnung, wenn sie ihr Wissen um das, was geschehen
war, für sich behielt. Die Geschichte gehörte in die Hände von Detective Inspector Almond, und
zwar so schnell wie möglich.
Ich mache mich sonst schuldig, dachte sie, und wieder kam ihr der Gedanke, der sie schon einmal
erschreckt hatte: dass Chad Beckett in größter Gefahr schweben könnte.
Sie knipste die Innenbeleuchtung des Wagens an
und suchte in ihrer Handtasche herum. In einem Seitenfach fand sie
DI Almonds Karte.
Im Anschluss an ihr erstes Gespräch hatte die Polizistin sie ihr ausgehändigt. Falls ihr etwas
einfiele, den Mord an ihrer Großmutter betreffend, ganz gleich, wie banal es ihr erscheinen
mochte ...
»Und was ich für Sie habe, ist keineswegs banal, Inspector«, murmelte sie.
Sie tippte die Nummer in ihr Handy. Das Netz hier draußen im Wald war nicht besonders gut, aber
es reichte aus. DI Almond meldete sich nach dem vierten Klingeln. Sie klang ein wenig atemlos.
»Ja?«
»Inspector? Hier ist Leslie Cramer.«
»Dr. Cramer! Ich wollte Sie heute Abend auch noch anrufen.«
Im Hintergrund waren Autohupen, Motorengeräusche und Stimmen zu hören. Valerie Almond schien
gerade durch die Stadt zu laufen. »Ich muss Sie unbedingt sprechen, Inspector«, sagte Leslie.
»Es geht um den Mord an meiner Großmutter.«
»Wo sind Sie im Moment?«
»Ich komme von Robin Hood's Bay und bin jetzt kurz vor Staintondale. Ich könnte in zwanzig
Minuten in Scarborough sein.«
»Ich bin gerade auf dem Weg zur Pizzeria«, sagte Valerie und fügte etwas verlegen hinzu: »Ich
habe heute noch nichts gegessen. Können Sie dorthin kommen? In der Huntriss Row.«
»Ja, natürlich. Ich weiß, wo das ist.« »Übrigens«, sagte Valerie, »Sie wissen, dass es einen
Verdächtigen im Fall Mills gibt? Hat Ihnen Mrs. Brankley davon erzählt?«
Sie dachte an die etwas wirren Schilderungen von Chad am Mittag. »Chad Beckett hat mir davon
erzählt, ja.«
»Die Ermittlung ist äußerst schwierig, aber wir können bereits sagen, dass er als Mörder von
Fiona Barnes jedenfalls ausscheidet, so viel haben wir geklärt. Er hat ein Alibi für die
fragliche Zeit.« Dies zu hören verwunderte Leslie nicht allzu sehr. »Inspector, der Empfang ist
hier sehr schlecht», sagte sie, »ich bin gleich bei Ihnen, und dann ... «
»Eines noch schnell«, unterbrach Valerie. »Haben Sie eine Ahnung, wo sich Dave Tanner aufhalten
könnte?«
Sie hätte antworten können: Ja, heute Mittag war
er auf der Beckett-Farm, und wenn Sie ihn dort jetzt nicht mehr finden, dann ist er
wahrscheinlich schon in der Wohnung meiner Großmutter. Stattdessen
fragte sie vorsichtig zurück: »Warum?« Vielleicht aus einer Art Loyalität heraus, die sie ihm
gegenüber empfand, vielleicht aber bremste sie auch die Scheu, vor der Polizistin zuzugeben,
dass Tanner zumindest vorübergehend bei ihr wohnte. Es hätte ein verfänglicher Eindruck
entstehen können.
»Es läuft eine Fahndung nach ihm«, erklärte Valerie. »Seine Aussagen, wo und wie er die Nacht
von Samstag auf Sonntag verbracht hat, haben sich
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