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Das andere Kind

Titel: Das andere Kind Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Das andere Kind
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nicht, ob eigentlich
    alles in Ordnung ist?«
    »Gibt es denn einen konkreten Verdacht gegen Tanner?«, fragte Chad.
    Jetzt schonte sie ihn nicht mehr. »Seine Lügerei. Das ist das eine, und das ist es auch, was
    die Polizei weiß. Das andere weiß nur ich. Dave Tanner kennt die ganze Geschichte um dich und
    Fiona. Um Brian Somerville und Semira Newton. Alles das, was da in deinem Computer steht, ist
    ihm bekannt.«
    Zumindest war es ihr gelungen, seine Gleichgültigkeit zu durchdringen. Er schien irritiert.
    »Woher denn? Hast du ihm das alles zu lesen gegeben? Oder Fiona?«
    »Das spielt doch jetzt keine Rolle. Er ist jedenfalls inzwischen schon bei Semira Newton
    gewesen. Die Geschichte scheint ihn zu beschäftigen.«
    Sie ahnte, dass ihm ähnliche Gedanken im Kopf herumgingen wie ihr, aber sie
    konnte ihm ansehen, dass er sie gewissermaßen noch im selben Atemzug unter Fantastereien verbuchte. »Welchen Grund sollte Tanner denn
    haben, sich für diesen ganzen alten Kram zu interessieren?«, fragte er.
    »Er ist schlau«, sagte Leslie, »und er braucht Geld. Dringend. Möglicherweise ist es ihm egal,
    auf welchem Weg er es sich beschafft.«
    »Du glaubst, er hat deine Großmutter umgebracht und dafür Geld von der Newton bekommen?«,
    fragte Chad.
    »Er ist erst gestern bei ihr gewesen. Daher stimmt diese Theorie nicht mit dem tatsächlichen
    Zeitablauf überein, aber womöglich gibt es eine Erklärung. Ich weiß nicht mehr, was ich glauben
    soll, Chad. Eines steht jedenfalls fest: Der Typ, der höchstwahrscheinlich Amy Mills umgebracht
    hat, scheidet als Mörder Fionas aus. Valerie Almond sagt, er hat ein Alibi. Im Unterschied zu
    Dave. Seines war erlogen.«
    »Dann ruf jetzt die Polizei an«, sagte Chad, »und sag ihnen, sie sollen herkommen, Dave und
    Gwen suchen und irgendetwas unternehmen.«
    Sie erwog seinen Vorschlag kurz, schüttelte dann den Kopf. »Ich gehe jetzt hinaus und schaue
    mich selbst mal um. Wenn ich in einer halben Stunde nicht zurück bin, rufst du Detective
    Inspector Almond an, okay? Hier«, sie zog die Karte aus der Tasche und drückte sie Chad in die
    Hand, »ihre Nummer. Und sei vorsichtig. Am besten schließt du die Tür ab.«
    »Weshalb sollte ich ... «
    Ungeduldig fuhr sie ihn an: »Weil du in Gefahr bist, falls das hier ein Rachefeldzug ist,
    deshalb! Du hast in dieser ganzen Sache mindestens so viel Dreck am Stecken wie Fiona, das
    solltest du dir einmal klarmachen!«
    Er verzog genervt das Gesicht, aber sie hatte den Eindruck, dass er sich gelassener gab, als er
    tatsächlich war. Auch ihm behagte die Situation nicht, wobei es vermutlich weniger Angst war,
    was ihn beschäftigte. Es passte ihm nicht, aus seiner Lethargie, aus der Versunkenheit in seine
    eigene Welt aufgescheucht zu werden. Noch keine Woche war seit der Ermordung Fionas vergangen,
    aber er hatte im Verlauf der wenigen Tage schon mit mehr Menschen reden müssen als während der
    letzten zehn Jahre. Ständig passierte etwas Neues, ständig wollte irgendjemand irgendetwas von
    ihm. Er musste sich verfolgt und bedrängt fühlen. Er war ein alter Mann, der keine Lust hatte,
    seine Lebensweise zu ändern, sogar dann nicht, wenn eine lebenslange Freundin nachts auf einer
    Schafweide erschlagen wurde, er selbst in Gefahr schwebte und seine Tochter mit einem mehr als
    undurchsichtigen Mann in der Dunkelheit verschwunden war. Leslie konnte Chad ansehen, dass er
    allein ihre Bitte, eine halbe Stunde später die Polizei zu verständigen, als Zumutung empfand.
    Er lebte seinen Trott und hatte bereits vor Jahrzehnten beschlossen, niemals nach rechts oder
    links zu blicken. Sein Vater musste ähnlich veranlagt gewesen sein, und vielleicht konnte Chad
    nicht einmal etwas für seine fast autistisch wirkende Art. Er hatte sie vorgelebt
    bekommen.
    Es wäre ein Wunder gewesen, hätte er sich um Brian Somerville gekümmert, dachte Leslie, er kann
    so etwas gar nicht. Er kann sich überhaupt nicht genug in andere Menschen und andere Schicksale
    hineinversetzen, um sich für irgendetwas oder irgendjemanden zu engagieren. »Hast du vielleicht
    eine Taschenlampe für mich?«, fragte sie.
    Er erhob sich, schlurfte in den Flur und nahm eine Taschenlampe aus einem Regal, auf dem sich
    verstaubte Schals, Mützen und Handschuhe stapelten.
    »Hier. Die müsste noch funktionieren.«
    Zum Glück hatte er recht. Die Batterien hatten noch Kraft.
    »In Ordnung«, sagte Leslie, »dann schaue ich mich mal auf dem Hof und in der näheren Umgebung
    um.

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