Das andere Kind
überprüfen. Noch einmal
klappte sie ihr Handy auf, aber sie hegte keine allzu große Hoffnung, und tatsächlich war alles
beim Alten: kein Netz.
Sie überquerte die hölzerne Hängebrücke, die ihr bedrohlicher als sonst zu schwanken schien,
aber sie wusste, dass es Einbildung war; es lag an der gähnenden Schwärze unter ihr, an der
Dunkelheit, in der sich die Schlucht in der Unendlichkeit zu verlieren schien. Trotz der
Taschenlampe war es nicht ganz ungefährlich, was sie hier tat; das Gelände war uneben und
unberechenbar, die Schlucht tief und teilweise felsig. Und sie selbst war lange nicht mehr hier
gewesen, hatte zwar eine ungefähre Vorstellung von der Geografie des Ortes, verfügte aber nicht
mehr über die fast schlafwandlerische Sicherheit, mit der sie sich während ihrer Kinderjahre
hier fortbewegt hatte. Damals, als sie fast jeden Nachmittag mit ihrer Großmutter auf die
Beckett-Farm gekommen war und dann mit Gwen in der Schlucht und am Strand gespielt hatte,
während Fiona ... Ja, was eigentlich? Was hatten Fiona und Chad und Chads Frau eigentlich
während dieser langen Stunden getan? Als Kind hatte sie sich das nie gefragt, hatte die
Tatsache, dass sie und ihre Großmutter mehr Zeit bei einer anderen Familie verbrachten als
daheim, einfach als selbstverständlich hingenommen. Später hatte sie das ganze Thema dann nicht
mehr interessiert. Und nun würde sie vermutlich nie mehr eine Antwort darauf bekommen. Chads
Frau war schon lange tot. Fiona war nun auch tot. Und Chad war nicht der Mensch, der überhaupt
jemals eine Antwort gab.
Sie hatte das Ende der Hängebrücke erreicht. Nun begann der Abstieg in die Schlucht hinunter.
Sie erinnerte sich, als Kind wie eine Gämse hier hinuntergesprungen zu sein. Jetzt hatte sie
eher die Gangart einer alten Frau, die sich ängstlich und mühsam voranbewegt. War es damals
schon so steil nach unten gegangen? Hatten die Felsen, die eine Art Treppe bildeten, so weit
auseinandergelegen, dass man sie unmöglich jeweils mit einem einzigen Schritt nehmen konnte,
sondern sich vorsichtig von einem zum anderen herunterlassen musste? Sie setzte sich
schließlich hin und rutschte auf dem Po abwärts, aber sie brauchte beide Hände, um sich
abzustützen, und das brachte sie in Schwierigkeiten mit der Taschenlampe. Einmal glitt sie ihr
aus der Hand, fiel aber zum Glück nur auf eine Felsenstufe weiter unten; zitternd vor Schreck
bekam sie sie wieder zu fassen. Sie blieb sitzen und überlegte. Es war verrückt, was sie hier
tat, und sie hatte nicht die geringste Ahnung, ob es irgendeinen Sinn hatte. Wenn sie die
Taschenlampe verlor, hatte sie kaum noch eine Chance, den Rückweg zu finden, zumindest nicht
ohne ernsthaft in Gefahr zu geraten, sich einen Knöchel zu verstauchen oder gar zu
brechen.
Leslie beschloss, lieber umzukehren.
Die Polizei war vielleicht schon auf der Farm, und wenn nicht, dann würden die Beamten jeden
Moment auftauchen. Sollten sie weitersuchen. Sie waren besser dafür ausgerüstet.
Sie machte sich wieder an den Aufstieg, was sich als ausgesprochen schwierig erwies, da sie nur
eine Hand frei hatte. Sie atmete schwer und war in Schweiß gebadet, als sie oben an der Brücke
anlangte. Ein Blick auf die Armbanduhr zeigte ihr, dass fast eine Stunde seit ihrem Aufbruch
von der Farm vergangen war. Sie hatte endlose Zeit beim Klettern verschwendet.
Sie lief schneller als vorher über die Brücke, so als habe sie sich sowohl
an deren Schwanken als auch an den unendlich scheinenden Abgrund gewöhnt. Aber in Wahrheit war
es die Angst, die sie trieb, sie war stärker geworden, weil die Bilder, die ihre Fantasie ihr
vorspielte, fürchterregender und drängender ge worden waren. Es gab
im Grunde nur noch zwei Möglichkeiten, und beide waren entsetzlich:
Entweder Dave Tanner steckte hinter dem Verbrechen an Fiona und war jetzt gemeinsam mit Gwen
verschwunden, was für Gwen kaum glimpflich ausgehen konnte. Oder aber er hatte nichts Böses
verbrochen - weshalb lügt er dann ständig? - und war nach Scarborough zurückgekehrt, nachdem er seine Verlobung gelöst hatte. Das
würde bedeuten, dass Gwen allein und verzweifelt in der Nacht herumirrte und Schlimmstes
vorhaben mochte. Ob sie der Mensch war, der mit dem Gedanken spielen könnte, seinem Leben ein
Ende zu setzen, vermochte Leslie nicht zu beurteilen. Aber sie wusste, dass Liebeskummer,
verletzte und enttäuschte Gefühle zu den häufigsten Gründen für einen
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