Das andere Kind
Und wie gesagt: Schließ die Tür ab!« Er brummte etwas, aber als sie hinausgetreten war,
hörte sie, wie hinter ihr der Schlüssel umgedreht wurde.
Etwas stimmte nicht, und während sie hinter dem wandernden Lichtkegel her
den Hof in Richtung der ehemaligen Stallgebäude überquerte, fragte sie sich, weshalb sie nicht
sofort Valerie Almond anrief. Die Polizistin saß jetzt in ihrer Pizzeria und würde bald
anfangen, sich Gedanken zu machen, wo Leslie blieb. Wäre es nicht besser gewesen, sie sogleich
zu verständigen? Wie es auch richtig g ewesen wäre, ihr auf die Frage nach Dave Tanner ohne Umschweife zu antworten. Weshalb
tat sie es also nicht?
Sie kannte die Antwort, wusste aber, dass sie für niemanden überzeugend geklungen hätte,
vielleicht nicht einmal für sich selbst: weil sie Dave Tanner mochte. Weil sie ihn als Freund
empfand, spätestens seit der letzten Nacht. Obwohl er sie belogen hatte, zweimal sogar. Sie
mochte ihn nicht denunzieren. Sie wollte mit ihm reden. Fragen, weshalb er unfähig war, es zu
irgendeinem Moment in dieser ganzen verfahrenen Geschichte einmal mit der Wahrheit zu
versuchen. Ihn dann bitten, von selbst zur Polizei zu gehen.
Was er unzweifelhaft gerne tun wird, falls er tatsächlich Fionas Mörder ist, dachte sie.
Vielleicht schwebte Gwen in höchster Gefahr. Und Leslie vertat hier wertvolle Zeit.
Wirklich nur noch eine halbe Stunde, nahm sie sich vor. Sie hatte die
Stallgebäude erreicht und leuchtete hinein. Bis auf das dort gestapelte, langsam vor sich hin rostende Gerümpel war alles leer. Kein
Mensch hielt sich dort auf, auch schien niemand hier gewesen zu sein. Keine Fußspuren im Jahre
alten Staub und Dreck.
Leslie musste husten, wandte sich dann ab. Sie blickte zum Haus hinüber. Schon wieder kein
Licht. Wahrscheinlich hatte sich Chad erneut in sein Arbeitszimmer verzogen. Löschte Fionas
Briefe aus dem Computer. Und glaubte, damit auch alle Schuld seines Lebens löschen zu können.
Ein Mausklick, und die Dinge hatten sich erledigt.
N ach einer Sekunde des Überlegens beschloss
Leslie, ihre Suche noch ein Stück über das unmittelbare Gelände des Hofes hinaus
auszudehnen.
Sie schlug den Weg in Richtung Strand ein.
Die Wolken verhinderten jeden Anflug von Mondschein, aber die Taschenlampe,
die Chad ihr gegeben hatte, brannte stark und hell. Mühelos konnte sich Leslie über den
ausgetretenen Pfad bewegen. Sie wusste, dass Gwen den Strand liebte und dass es sie, wann immer
sie spazieren ging, dorthin zog. Möglicherweise waren sie und Dave noch immer dort, kauerten
auf den großen Felsen und redeten miteinander. Obwohl es inzwischen empfindlich kühl geworden
war. Vielleicht waren sie warm angezogen. Vielleicht waren sie so vertieft in ihr Gespräch,
dass sie die Kälte und die sich unangenehm v erdichtende Feuchtigkeit gar nicht wahrnahmen.
Einmal blieb Leslie kurz stehen, zog ihr Handy hervor, beleuchtete das Display. Kein Netz, wie
sie vermutet hatte. Egal. Noch zehn Minuten, dann war die halbe Stunde um und Chad würde
Valerie anrufen. Die Polizei würde die ganze Angelegenheit übernehmen. Sie, Leslie, hatte Dave
dann immerhin eine Chance von dreißig Minuten gegeben. Alles, was darüber hinausging, wäre
unverantwortlich gewesen.
Sie traf niemanden, während sie über die hügeligen Wiesen hastete. Einmal stob eine Schar
Moorhühner erschreckt aus einem Gebüsch auf, aber ansonsten kam es ihr hier draußen vor, als
sei sie ganz allein auf der Welt. Natürlich konnte es sein, dass ihre Gedanken in eine falsche
Richtung gingen: Wer sagte ihr denn, dass sich Gwen und Dave überhaupt noch in der Nähe der
Farm befanden? Chads Auto hatte an seinem üblichen Platz gestanden, aber die beiden konnten
auch den Bus genommen haben. Vielleicht waren sie nach Scarborough gefahren. Hatten ein Pub
aufgesucht, hielten sich jeder an einem großen Glas Guinness fest, um die bedrückende Situation
zu überstehen. Aber würde Dave das wirklich tun, wenn er versuchte, eine Verlobung zu lösen?
Die unglückliche Braut mit in die Stadt nehmen, was die Notwendigkeit nach sich zog, sie auch
wieder nach Hause zu bringen. Auf einmal kam ihr ein neuer Gedanke: Und wenn Dave längst zu
Hause bei ihr, in Fionas Wohnung, saß? Und Gwen allein im Dunkeln herumirrte, verzweifelt,
aufgelöst, todunglücklich und tief verletzt? Leslie fluchte leise vor sich hin, weil es ihr
nicht eingefallen war, daheim anzurufen und diese Möglichkeit zu
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