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Das andere Kind

Titel: Das andere Kind Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Das andere Kind
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geachtet, deine
    Situation nicht gesehen zu haben. Du hattest eine schlimme Kindheit und Jugend, Gwen. Aber
    warum bist du nicht weggegangen? Später? Mit achtzehn? Warum bist du hiergeblieben?«
    »Ich wollte ja weg. Was glaubst du, was ich alles versucht habe! Du dachtest, ich lese bloß
    diese albernen Liebesromane und träume mich in andere Welten. Stattdessen habe ich ...
    «
    »Ja?«
    »Ich glaube, ich habe auf weit über hundert Bekanntschafts - annoncen geantwortet. Mich mit ich weiß nicht
    wie vielen Männern getroffen. Seit einigen Jahren auch über das Internet. Ich kenne jedes
    Portal für Heiratswillige. Ich kenne jedes System. Ich habe Stunden jeden Tag am Computer
    verbracht. Und jede Menge Abende bei Dates mit Männern.«
    L eslie hätte das nie vermutet, aber langsam
    überraschte sie fast nichts mehr. »Der Richtige war nicht dabei«, mutmaßte sie ziemlich
    lahm.
    Gwen lachte, es klang ziemlich schrill. »Unnachahmlich, unsere Leslie! Du
    hast immer eine vornehme Wortwahl für die größte Scheiße! Der
    Richtige war nicht dabei . .. Das ist nett umschrieben! Danke für
    dein Taktgefühl! Nein, der Richtige war nicht dabei. Der Richtige, der eine wie mich gewollt
    hätte. Die grausame Wahrheit ist: Es kam nie zum zweiten Date. Sie sahen mich, sie quälten sich
    einen Abend lang mit mir ab, sie zahlten vielleicht das Essen, das sie an mich verschwendet
    hatten, und dann verdufteten sie. Erleichtert, dass sie es hinter sich hatten. Und meldeten
    sich nie wieder. Nicht einmal auf meine Mails. Geschweige denn, dass sie versucht hätten, mich
    wiederzusehen.«
    »Das tut mir sehr leid.«
    »Ja, traurig, nicht? Arme, bedauernswerte Gwen! Aber die Abende, an denen
    sie sich durch die zähflüssige Unterhaltung mit mir kämpften, waren dabei noch die bessere
    Variante. Weißt du, was ich auch oft erlebte? Stell dir vor, du sitzt in einem Restaurant. Du
    bist nervös. Du wartest auf den Mann, der vielleicht - vielleicht! - Mr. Right ist. Du hast dich herausgeputzt. Du
    weißt, dass du nicht schön bist und dass du nicht viel Geschick besitzt, dich herzurichten,
    aber du hast dein Bestes gegeben. Du zitterst vor Aufregung. Und dann geht die Tür auf Der Typ,
    der reinkommt, sieht nicht schlecht aus. Auch nicht unsympathisch. Du weißt, er ist es. Der
    Mann, mit dem du seit einigen Wochen im
    Internet kommunizierst. Du bekommst langsam einen Blick dafür, verstehst du? Man braucht keine
    Erkennungszeichen, rote Rose oder eine bestimmte Zeitung unter dem Arm oder etwas in der Art.
    Man sieht es auch so. Und er auch. Sein Blick schweift durch den Raum und bleibt an dir hängen.
    Er erkennt dich, wie du ihn erkennst. Und du siehst, dass er erschrickt. Dass du absolut nicht
    das bist, was er sich erhofft hat. Dass ihm von einer Sekunde zur anderen vor der Vorstellung
    graut, mit dir einen Abend verbringen und dafür auch noch Geld hinblättern zu müssen. Und noch
    etwas weißt du schlagartig: dass er nicht den Anstand aufbringen wird, diesen Abend
    durchzustehen und sich später irgendwie aus der Affäre zu ziehen.«
    Leslie wusste, was kam. »Er tut so, als hätte er sich bloß in der Tür geirrt, und verschwindet
    wieder.«
    »Eine hübsche Situation, nicht wahr?«, sagte Gwen. »Du hast ja dem Kellner vorher gesagt, dass
    du noch wartest. Nun musst du irgendwann erklären, dass deine Verabredung leider nicht
    erschienen ist. Du bezahlst das Glas Wasser, an dem du dich die ganze Zeit über festgehalten
    hast, stehst auf und gehst. Spürst ein paar mitleidige Blicke des Personals, das die Situation
    begriffen hat und dem du leid tust. Du schleichst nach Hause. Gedemütigt. Abgelehnt.
    Erniedrigt. Und dein Hass wächst. Er wird stärker als alles andere. Er wird sogar stärker als
    der Schmerz, irgendwann. Es kommt der Zeitpunkt, da hast du das Gefühl, du bestehst aus nichts
    anderem mehr als aus Hass. Und du denkst, du explodierst, wenn nicht irgendetwas
    passiert.«
    Leslie verstand. Sie verstand, was sich in Gwen angestaut hatte, wusste,
    dass ein Hass, der hinter einer so glatten, lächelnden Fassade über Jahre versteckt wurde, zum
    Orkan und damit unbeherrsch bar werden konnte - und musste doch die Logik hinterfragen, die Gwen zu sehen und für sich zu beanspruchen
    schien.
    Es mochte nicht klug sein, Zweifel anzumelden gegenüber einer geisteskranken Frau mit einem
    Revolver in der Hand, aber sie tat es, weil ein Instinkt ihr riet, dass nur eines nicht
    geschehen durfte: Das Gespräch durfte nicht

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