Das andere Kind
nicht geantwortet. Aber er hatte im Licht der Hauslaterne sehen können, dass es ihr
wirklich schlecht ging. Sie war in höchster Sorge, und Colin fragte sich nicht zum ersten Mal,
wie viele Geheimnisse seine Frau vor ihm haben mochte.
»Wenn du dir solche Gedanken um Tanner machst«, sagte er nun, »solltest du vielleicht die
Polizei anrufen. Anstatt uns hier durch die Nacht zu jagen und um unseren Schlaf zu
bringen!«
»Ich habe nicht gesagt, dass du mitkommen sollst!«
»In diesem Zustand könnte ich dich nicht allein fahren lassen. Jennifer, wovor genau hast du
Angst?«
Sie sah ihn nicht an, drückte ihr Gesicht seitlich gegen die Scheibe. »Ich
weiß es n icht genau, Colin. Das ist die Wahrheit. Ich weiß nur, dass Gwen zu einer Kurzschlusshandlung fähig sein könnte, wenn
Dave mit ihr Schluss macht.«
»Was genau verstehst du in diesem Fa ll unter
Kurzschluss- handlung? «
Sie antwortete nicht.
Drängend wiederholte Colin: »Jennifer! Was verstehst du unter Kurzschlusshandlung?«
Sie schien mit sich zu ringen. »Sie steht unter entsetzlichem Druck«, sagte sie schließlich.
»Sie ist zerfressen von Hass und Verzweiflung. Ich weiß nicht, ob sie diese Niederlage wird
abfedern können.«
»Hass? Gwen?«
Jetzt wandte sie sich ihm zu. Er blickte kurz zu ihr hinüber, ehe er sich wieder auf die dunkle
Straße konzentrierte. Ihre Augen waren groß und voller Angst.
»Ich kann nicht die Polizei anrufen«, sagte sie, »weil ich sie damit auf Gwen lenke und diese
in eine Situation bringe, aus der sie vielleicht nicht mehr herausfindet. Aber ich weiß, dass
Gwen seit Jahren schon ihr Leben hasst und dass sie sich als einen Menschen empfindet, auf den
sich alles Unglück konzentriert. Sie ist voller Wut darüber. Sie hat mir das nie direkt gesagt,
aber ich konnte es spüren. Ich weiß es einfach, Colin.«
»Ist dir klar, was du da sagst?«
»Ja. Aber deswegen muss sie nicht Fiona umgebracht ha- ben.«
»Doch du schließt es nicht völlig aus?«
Abermals blieb Jennifer stumm.
Colin nahm eine Hand vom Steuer, strich sich über die Stirn. Seine Haut
fühlte sich kalt und feucht an. »Das Alibi«, sagte er, »dieses bl öde falsche Alibi. Du wolltest nicht dich damit schützen. Du
wolltest sie schützen. Du hattest einen
Verdacht, und statt der Polizei davon zu berichten, sorgtest du dafür, dass Gwen möglichst
schnell aus der Schusslinie geriet. Das ist Wahnsinn, Jennifer. Das ist echter
Wahnsinn.«
»Sie soll nicht noch mehr leiden.«
»Sie hat vielleicht einen Menschen umgebracht!« »Aber wir wissen es nicht!«
»Es ist Aufgabe der Polizei, das herauszufinden. Und es wäre deine Pflicht gewesen, alles zu
sagen, was du weißt. Wir kommen in Teufels Küche. Ist dir das klar?«
Statt einer Antwort fragte sie: »Kannst du schneller fahren?«
»Wir müssen spätestens jetzt die Polizei anrufen, Jennifer.«
»Nein.«
Mit einem lauten Fluch trat Colin das Gaspedal durch. Eine Geschwindigkeitsübertretung war nun
auch schon egal.
»Dein Vater stirbt, wenn er nicht bald Hilfe bekommt«, sagte Leslie. Sie
konnte fast nicht mehr stehen. Sie wusste nicht, wie viel Zeit vergangen war. Sie spürte, dass
Gwen aus der Situation, die sie selbst geschaffen hatte, nicht herausfand. Aber die Minuten
verrannen, und Chads Chancen, das Drama zu überleben , verrannen mit
ihnen. Die von Dave Tanner ebenfalls. Und sie konnte nichts tun.
Musste dieser Verrückten gegenüberstehen und hoffen, dass diese nicht in Panik geriet und
abdrückte.
Gwen zuckte mit den Schultern. »Soll er. Das ist ja der Sinn der Sache. Fiona tot, Chad tot. Er
hat mein Leben blockiert, und sie hat ihm dabei geholfen. Im Übrigen haben die beiden meine
Mutter auf dem Gewissen. Über Fionas Weigerung, meinen Vater loszulassen, und über der
Unfähigkeit meines Vaters, Fiona in die Schranken zu weisen, ist meine Mutter buchstäblich
krank geworden. Oder denkst du, sie fand es besonders lustig, deine Großmutter Tag für Tag hier
auf der Farm zu haben? Sogar gekocht hat sie für meinen Vater. Ihn begluckt, wenn er krank war.
Seine Sorgen geteilt. Manchmal haben beide so getan, als gebe es meine Mutter gar nicht. Und
mich auch nicht. Wir waren überhaupt nicht da. Darüber hat Mum ihren Krebs bekommen. Und ich
... « Sie sprach nicht weiter.
»Du bist seelisch krank geworden«, sagte Leslie. Sie bedachte jedes Wort, das sie sagte, sehr
genau. »Und ich kann es verstehen. Es tut mir von Herzen leid, darauf nicht
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