Das andere Kind
aber zwischen den Wolken, die den Nachthimmel über der Southbay von
Scarborough entlangzogen, blitzte hier und da ein Stern auf. Manchmal trat sogar der Mon d hervor. Das Meer war dann in seinem Schein als
dunkle, düstere, stark bewegte Masse zu ahnen.
»Und welchen Eindruck hast du von
Gwen?«, fragte Leslie.
Fiona zündete sich die fünfte
Zigarette an, seit ihre Enkelin bei ihr aufgekreuzt und mit Sack und Pack in das Gästezimmer
eingezogen war.
»Sie wirkt auf mich ziemlich
überwältigt von dem, was mit ihr da geschieht. Aber auch glücklich? Ich weiß nicht. Sie ist
angespannt. Meiner Ansicht nach traut sie ihrem eigenen Verlobten nicht so recht.«
»In welcher Hinsicht?«
»Vielleicht zweifelt sie an der
Ernsthaftigkeit seiner Absichten. Womit sie nicht allein wäre. Ihr Vater und ich zweifeln
ebenfalls.«
»Du kennst Dave Tanner?« »Kennen
ist sicher zu viel gesagt. Ich habe ihn ein paar Mal in den letzten zwei Monaten auf der
Beckett-Farm getroffen. Und einmal habe ich Gwen und ihn hierher zu mir eingeladen. Das war
ihm, glaube ich, außerordentlich unangenehm. Er trifft nicht gern Leute, die um Gwen herum sind
- und es sind ja ohnehin wenige. Vermutlich hat er Angst, dass sie ihn
durchschauen.«
»Durchschauen? Du redest, als ob
er ... «
»Ein Gauner wäre? Genau das ist
er meiner Ansicht nach«, sagte Fiona heftig. Sie zog hektisch an ihrer Zigarette. »Wir können
ja offen miteinander sein, Leslie, und wir sind hier unter uns. Ich schätze Gwen. Sie hat ein
freundliches Wesen. Manchmal will sie es den Menschen ein wenig zu sehr recht machen, und das
kann einem auf die Nerven gehen, ist aber zweifellos nicht auf einen schlechten Charakter
zurückzuführen. Sie ist fünfunddreißig, und meines Wissens hat es in ihrem Leben noch nie einen
Mann gegeben, der sich näher für sie interessiert hätte, und wir beide wissen,
warum!«
Leslie wand sich ein wenig. »Nun,
sie ist ... «
»Sie ist an Unscheinbarkeit kaum
mehr zu überbieten. Sie ist sterbenslangweilig. Sie sieht manchmal aus wie ein richtiger
Bauerntrampel. Sie zieht sich unmöglich an. Sie ist hoffnungslos altmodisch und geprägt von dem
Schund, den sie dauernd liest. Sie lebt in einer Welt, die gar nicht existiert. Ich kann
verstehen, dass die Männer einen Bogen um sie machen.«
»Ja, a ber es könnte doch einen geben,der in ihr Inneres blickt und .. «
Fiona gab einen
verächtlichen Laut von sich. »Und was findet er dort? Gwen ist nicht dumm, aber sie hat sich
seit der Schulzeit nie weitergebildet, und sie hat sich nie für das Leben draußen wirklich
interessiert. Warte, bis du morgen Abend Dave Tanner kennen lernst! Ich kann mir einfach nicht
vorstellen, dass er es dauerhaft aushält, mit einer Frau praktisch nie reden zu
können.«
»Du meinst ... «
„Er ist gebildet,
intelligent und an allem interessiert, was in der Welt vorgeht. Darüber hinaus ist er ein
gutaussehender Typ, dem sicher etliche Türen offen stehen. Hat allerdings sein Leben ziemlich
in den Sand gesetzt. Und das ist meiner Ansicht nach der springende Punkt.«
»Du meinst ... «,
wiederholte Leslie noch einmal.
»Weißt
du, wie der Mann sich über Wasser hält? Mit abendlichen Sprachkursen für Hausfrauen. Dabei hat
er einen höheren Schulabschluss und ein Politikstudium vorzuweisen, das er allerdings vor dem
Examen abgebrochen hat. Stattdessen hat er sich da nn in der
Friedensbewegung enga giert und jede Menge idiotischer Dinge getan,
die ihn nicht weiterbringen konnten. Jetzt ist er dreiundvierzig Jahre alt und lebt möbliert
zur Untermiete, weil er sich mehr als das nicht leisten kann. Und damit ist er verdammt
unzufrieden.«
»Du weißt eine Menge
über ihn.«
»Ich frage gern sehr
direkt. Und aus den Antworten, die ich bekomme, sowie aus denen, die ich nicht bekomme, baue
ich mir ein Bild, und das ist häufig nicht ganz verkehrt.
Gescheiterter
Student, Pazifist, Ökoaktivist, das fühlt sich alles für einen halbwegs jungen Menschen noch
ganz gut an. Spannend vielleicht und sicher aufregender als eine bürgerliche Existenz. Aber
irgendwann kippt das. Wenn man älter wird. Wenn das Leben in der WG und die Treffen zu endlosen
Protestmärschen nicht mehr recht zu einem passen. Ich schätze, Tanner ist schon lange ziemlich
unzufrieden, aber nun befindet er sich zudem noch in der klassischen Midlife-Krise. Er steht
unter Torschlusspanik, was ein Leben in geordneten Verhältnissen und mit einem
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