Das andere Kind
gut
aus. Ich habe dich selten so blass erlebt. Du hast abgenommen. Ist alles in
Ordnung?«
»Natürlich
ist alles in Ordnung. Was sollte nicht stimmen? Ich bin eine alte Frau. Du kannst nicht
erwarten, dass ich von Tag zu Tag rosiger und frischer aussehe. Ich bin jetzt endgültig auf der
abschüssigen Seite des Lebens. Leider.«
»So
pessimistisch kenne ich dich aber gar nicht.«
»Ich
bin nicht pessimistisch, ich bin einfach realistisch. Der Herbst hat begonnen, die Tage sind
oft feucht und kühl. Ich spüre meine Knochen. Es ist normal, Leslie. Es ist einfach normal,
dass ich nicht mehr die bin, die du einmal kanntest.« »Du bist sicher, dass dich nicht
irgendetwas bedrückt?« »Ganz sicher. Hör zu, Leslie, mach dir keine Sorgen um mich. Du hast
genug mit deinem eigenen Leben zu tun. Und jetzt« - sie erhob sich - »lass uns schlafen gehen.
Es ist spät. Ich brauche meine Kraft, wenn ich morgen diese rauschende Verlobungsfeier in der
idyllischen Umgebung der Beckett-Farm überstehen will- zumal ich weiß, dass es sich dabei um
den Beginn einer Tragödie handelt!«
»Du bist doch ziemlich pessimistisch«,
meinte Leslie lächelnd und sah ihrer Großmutter nach, als diese das Zimmer verließ. Sie kannte
Fiona. Besser als irgendeinen Menschen sonst auf der Welt.
Sie war sicher, dass irgendetwas nicht stimmte.
SAMSTAG, II. OKTOBER
»Aber Sie haben mich das alles doch schon einmal
gefragt«, klagte Linda Gardner. Sie klang weniger gereizt als erschöpft. Sie hatte gerade mit
ihrer Tochter zum Einkaufen gehen wollen, als Detective Inspector Almond angerufen und gefragt
hatte, ob sie auf einen Sprung vorbeikommen könne. Die kleine, drahtige Polizistin, mit der sie
im Juli stundenlang gesprochen hatte. Der Albtraum war sofort wieder wach geworden. Ganz und
gar wurde sie ihn ohnehin selten los.
»Ich weiß«, sagte Valerie Almond. Sie saß Linda
in deren Wohnzimmer gegenüber. Ihr war klar, wie sehr ihr erneutes Aufkreuzen in dieser Wohnung
die junge Frau belastete. »Ich muss Ihnen sagen, Mrs. Gardner, dass wir völlig im Dunkeln
tappen, was dieses entsetzliche Verbrechen an Amy Mills angeht. Daher arbeiten wir alles, was
wir haben - und das ist leider nicht besonders viel-, noch einmal durch. In der Hoffnung, dass
wir etwas übersehen haben. Oder dass einem der Befragten noch etwas einfällt. Etwas, das er
bislang zu erwähnen vergaß. Ich habe schon manchmal auf diese Weise einen Durchbruch erlebt.«
Linda schaute zum Fenster hin, als gebe es dort irgendetwas zu sehen, woran sie sich festhalten
konnte. Ein leuchtend blauer Himmel, ein goldener Oktobertag. »Es ist nur ... ich mache mir
immerzu so schreckliche Vorwürfe«, sagte sie leise. »Wäre ich nicht so vergnügungssüchtig
gewesen, hätte ich nicht völlig die Zeit vergessen ... vielleicht wäre Amy dann noch am Leben.
Wissen Sie, seit mein Mann uns verlassen hat, ist mein Alltag oft so schwierig. Alleinerziehend
mit einem so kleinen Kind, da bleiben mir nicht viele Möglichkeiten. Oft fühle ich mich
angekettet an diese Wohnung. An das Kind. Die Abende mit meiner Französischklasse waren etwas
Besonderes für mich. Frauen und Männer meines Alters, mit denen ich nach dem Unterricht in ein
Pub gehen konnte. Ein bisschen Wein trinken, lachen, erzählen ... und wissen, die Kleine ist
bei Amy in guter Obhut. Ich konnte mir nur einmal die Woche einen Sitter leisten. Die
Mittwochabende waren ... ich freute mich die ganze Woche über darauf.«
»Sie sprechen in der Vergangenheitsform«, sagte
Valerie, »unterrichten Sie denn nicht mehr?«
»Doch. Aber ich gehe danach nicht mehr mit meinen
Schülern weg. Ich könnte das gar nicht.« Ihre Augen schwammen. Sie presste die Lippen
aufeinander, um sich zu sammeln.
Valerie sah sie mitfühlend an. »Machen Sie sich
nicht zu viele Vorwürfe. Wir wissen ja nicht, ob alles anders gekommen wäre, wenn Sie zur
vereinbarten Zeit daheim gewesen wären.«
»Aber dieser ... dieser Verbrecher war eben
gerade an den Esplanade Gardens, als Amy dort auftauchte. Wäre sie früher ... «
»Das ist nur eine denkbare Variante«, unterbrach
Valerie.
»Ein Krimineller, der in den Parkanlagen
herumlungerte und dann auf ein zufälliges Opfer traf. Die andere Möglichkeit ist die, dass
jemand ganz gezielt Amy Mills ins Visier genommen hat. Noch immer gibt es keine Erklärung
dafür, weshalb der direkte Aufstieg durch zwei Bauzäune versperrt war. Wir haben ja damals
gleich mit den
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