Das andere Kind
Essens
fürsorglich das etwas zähe Stück Fleisch in mundgerechte Stücke geschnitten. Colin kannte auch
sie aus den Sommeraufenthalten recht gut, sie kam häufig zur Beckett-Farm, saß dann mit Chad
vor dem Haus in der Sonne oder rang ihm einen gemeinsamen Spaziergang über die Wiesen ab. Die
beiden stritten häufig miteinander, aber auf die Art eines alten Ehepaars, bei dem das Gezanke
fast zu einem vertrauten Ritual und einer speziellen Form der Konversation geworden ist. Fiona
Barnes wurde stets als alte Freundin der Familie gehandelt, wobei niemand sich genau darüber ausließ, wie es zu der Freundschaft
gekommen war und wie lange genau sie schon andauerte. Colin hätte geschworen, dass Fiona und
Chad zu irgendeiner Zeit ihres Lebens in Liebespaar gewesen waren. Da Chad ungewöhnlich spät
geheiratet hatte, vermutete Colin, dass die Liaison zwischen ihm und Fiona irgendwann davor
stattgefunden hatte. Warum sie nicht zu einer festen Beziehung geführt hatte, wusste er nicht.
Fiona war für die mutterlose Gwen früh zu einer Vertrauten geworden, und Colin hatte immer den
Eindruck gehabt, dass Gwen sehr an ihr hing und viel auf ihre Meinung gab. In der Frage ihrer
Heirat würde sie sich allerdings kaum von ihrem eingeschlagenen Weg abbringen lassen, ganz
gleich, wie sehr Fiona warnte.
Leslie Cramer,
Fiona Barnes' Enkelin aus London. Colin hatte sie an diesem Abend
erst kennen gelernt, hatte aber früher schon manchmal über Gwen von ihr gehört. So wusste er,
dass ihre Ehe vor nicht allzu langer Zeit in die Brüche gegangen war. Sie arbeitete als Ärztin.
Nach dem frühen Tod der Mutter war sie bei der Großmutter aufgewachsen und hatte diese häufig
bei ihren Besuchen auf der Beckett-Farm begleitet. So waren sie und Gwen etwas Ähnliches wie
Freundi nnen geworden, obwohl man sich kaum zwei unterschiedlichere Frauen hätte vorstellen können. Leslie sah ganz und gar
wie die klassische, moderne Karrierefrau aus, etwas kühl, diszipliniert, erfolgsorientiert. In
den altmodischen, verwohnten Räumen der Beckett-Farm wirkte sie vollkommen deplatziert. Schon
ihr schicker hellgrauer Hosenanzug passte nicht im Geringsten in das ländliche Yorkshire.
Dennoch spürte Colin, dass Gwens Verlobung von ihr nicht als eine Pflichtveranstaltung
empfunden wurde, deren zäh verrinnende Minuten sie mit zusammengebissenen Zähnen absaß. Sie
hatte eine echte, lange gewachsene Bindung an Gwen und sogar an den wortkargen Chad und an die
heruntergekommene Farm. Hinter ihrer gut angezogenen und geschickt geschminkten Fassade wirkte
sie verlassen und manchmal fast traurig.
Gwen, die glückliche Braut.
Dave Tanner hatte recht, das pfirsichfarbene Kleid stand ihr gut, malte einen rosigen Glanz auf
ihre blassen Wangen. Sie sah hübscher aus als sonst, wirkte aber sehr angespannt. Gwen war
nicht dumm. Sie wusste, dass ihr Verlobter mit Argusaugen begutachtet wurde, und sie spürte
natürlich die Aversion, die von Fiona ausging, die Zurückhaltung, die Leslie an den Tag legte,
das Unbehagen, das hinter dem Schweigen ihres Vaters lag. Mit Sicherheit war dieser Abend nicht
die Verlobung, die sie sich gewünscht hätte. Sie bemühte sich, die schleppende Unterhaltung in
Gang zu halten, und sie schien dabei vor allem von der Sorge geleitet, eine zu lang anhaltende
Gesprächspause könnte Fiona zu bissigen Bemerkungen oder unangebrachten Fragen verleiten. Es
tat Colin leid zu sehen, wie angestrengt sie war. Er schenkte ihr ein aufmunterndes Lächeln,
aber sie war viel zu nervös, um es zu bemerken.
Gleich neben ihr saß Dave
Tanner, ihr künftiger Ehemann. Colin hatte ihn zuvor einmal kurz gesehen, als er Gwen mit
seinem unmöglichen Auto auf der Farm abgeholt hatte. Ein gutaussehender Mann, dem es nicht
wirklich gelang, seine materielle Armut vor den Augen der anderen zu verbergen. Seine Haare
hätten schon lange wieder einmal einen guten Friseur gebraucht, und sein Jackett stammte, nach
Schnitt und Material zu schließen, aus einem Billig- Kaufhaus. Colin fand, dass ihm das etwas
Abgerissene, Schäbige durchaus stand, es gab ihm den Anstrich eines Künstlers, eines Bohemien,
aber es hatte den Anschein, als fühle sich Tanner damit ausgesprochen unbehaglich. Colin, der
über die Fähigkeit verfügte, tief in die Menschen zu blicken, meinte, etwas Verzweifeltes,
Gehetztes in der Ausstrahlung Dave Tanners zu spüren. Der Mann stand extrem unter Druck. Ob er
in Gwen verliebt war? Colin bezweifelte
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