Das andere Kind
irgendein
Gedanke, eine Erinnerung, sehr blass ... Sie hatte nach dem Mord an Amy Mills mit etlichen
Kollegen über die Tragödie gesprochen, hatte sich geoutet als die Person, bei der Amy gejobbt
hatte und die so leichtfertig mit der Zeit des jungen Mädchens u mgegangen war. Aber vorher
... Sie meinte, in irgendeinem Zusammenhang es vorher schon einmal erwähnt zu haben. In der Schule.
Plötzlich fiel es ihr ein. Ein gutaussehender Typ, der ebenfalls Französisch unterrichtete. Mit
dem sie sich zu Beginn eines jeden Kurses abgesprochen hatte. Bei der ersten Befragung damals
war er ihr gar nicht in den Sinn gekommen.
»Dave«, sagte sie, »Dave Tanner hat es,
glaube ich, gewusst.«
Valerie neigte sich vor. »Wer ist Dave
Tanner?«, fragte sie.
Vom ersten Moment an war der Abend auf die
Katastrophe zugesteuert, in der er schließlich endete. Darüber waren sich später alle einig,
und jeder bestätigte, dass es eine Atmosphäre gewesen war, als sitze man auf einem
Pulverfass.
Wie üblich war es Fiona gewesen, die ihre
Zunge nicht hatte im Zaum halten können. Sie hatte Gwen mit hochgezogenen Augenbrauen
gemustert. Gwen trug ein ungewöhnlich hübsches Kleid aus pfirsichfarbenem Samt, das in der
Mitte von einem schwarzen Lackgürtel gerafft wurde und damit offenbarte, was niemand der
Anwesenden bislang gewusst hatte: Gwen hatte eine ausgesprochen schlanke Taille und eine viel
zartere Figur, als man das unter ihren sonstigen sackähnlichen Gewändern hatte ahnen
können.
»Hübsches Kleid«, sagte Fiona schließlich.
»Ist es neu? Es steht dir!«
Gwen lächelte, glücklich über das
Kompliment. »Dave hat es für mich ausgesucht. Er meinte, ich könnte ruhig meine Figur etwas
mehr betonen.« »Da hat er recht«, bestätigte Fiona sanft, um gleich darauf die Krallen
auszufahren: »Hat er es auch bezahlt?« Gwen erstarrte.
»Also bitte, Fiona, das geht dich doch
nichts an«, murmelte Leslie, peinlich berührt.
Dave Tanner presste die Lippen
zusammen.
»Nein«, antwortete Gwen, »aber das wollte
ich auch gar nicht.«
»Ein Mann könnte seiner zukünftigen Ehefrau
ruhig einmal etwas Besonderes schenken«, sagte Fiona, »aber das ist natürlich nur meine
Meinung.«
Unbehagliches Schweigen folgte ihren
Worten. Jennifer Brankley rettete schließlich die Situation. Sie hatte Gwen beim Kochen und
Tischdecken geholfen und sich damit den Status einer Mit-Gastgeberin erworben.
»Wir können essen«, sagte sie mit bemüht
fröhlicher Stimme. »Wenn bitte alle ins Wohnzimmer kommen mögen.«
Das Wohnzimmer diente zugleich als
Esszimmer. Sie hatten um den großen Tisch gesessen und gequält Konversation gemacht. Colin
Brankley, der sich kaum an den mühsamen Gesprächen beteiligte, beobachtete die Anwesenden und
dachte: Jeder wünscht sich im Grunde weit weg. Am allermeisten Dave Tanner. Colin Brankley
arbeitete als Filialleiter einer Bank in Leeds, und er wusste, dass die Leute ihm wenig
Fantasie und Menschenkenntnis zutrauten und in ihm einen farblosen, eher langweiligen
Bürohengst sahen, der für seine Bilanzen und Akten lebte. Tatsächlich aber waren Bücher seine
Leidenschaft, er las in jeder freien Minute und tauchte mehr als die meisten anderen in eigene
Traumwelten ab. Er grübelte viel über die Charaktere nach, mit denen er sich in Romanen
konfrontiert sah, und verstand mehr von dem, was in Menschen vorging, als es irgendjemand
hinter seinem runden Gesicht mit den schütteren Haaren darüber und den dicken Brillengläsern
vor den Augen vermutet hätte.
Während er, ohne wirklich zu realisieren,
was er aß, seinen Lammbraten mit Pfefferminzsoße verzehrte, machte er sich in Gedanken seine
Anmerkungen zu den übrigen Anwesenden.
Chad Beckett, Gwens Vater. In sich gekehrt
wie immer, insofern ließ sich nicht wirklich erkennen, wie er zu der Verlobung seiner Tochter
mit diesem wie aus dem Nichts aufgetauchten, etwas undurchsichtigen Dave Tanner stand.
Vielleicht machte er sich Sorgen, aber er war nicht der Mensch, der diesen Ausdruck verliehen
hätte, kaum unter vier Augen und schon überhaupt nicht in größerer Runde. Und nie hätte er
versucht, seiner Tochter einen Strich durch die Rechnung zu machen - nicht einmal dann, wenn es
zu ihrem Besten gewesen wäre.
Fiona Barnes.
Streitlustig wie immer, und wie üblich fühlte sie sich für die Familie Beckett verantwortlich,
für die Tochter wie für den Vater. Sie saß neben Chad und hatte ihm zu Beginn des
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