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Das andere Kind

Titel: Das andere Kind Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Das andere Kind
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füllte einen Zahnputzbecher mit Wasser, warf die Tabletten hinein. Sie
    beobachtete, wie sie sich langsam auflösten. Sie sah die Bilder des schrecklichen Abends vor
    sich. Nachdem Dave aus dem Haus gelaufen war, hatten sie mit angehört, wie er draußen vier oder
    fünf vergebliche Versuche unternommen hatte, sein Auto anzulassen.
    Vielleicht gelingt es ihm
    nicht, und er kehrt zurück, hatte Leslie gedacht, aber eigentlich war ihr klar gewesen, dass er
    nach dieser Demütigung gar nicht zurückkehren konnte, selbst wenn er notfalls zu Fuß nach Scarborough hätte laufen
    müssen.
    Schließlich war der Wagen doch noch
    angesprungen und mit einem ungesunden Aufheulen des Motors vom Hof gejagt. Gwen hatte kein Wort
    gesagt, war aufgestanden und hatte das Zimmer verlassen. Sie hatten ihre Schritte auf der
    Treppe gehört, müde, langsame Schritte.
    Leslie stand ebenfalls auf, aber Jennifer
    war schon an der Tür. »Lassen Sie nur. Ich kümmere mich um sie.« Sie warf einen kalten Blick zu
    Fiona. »Vielleicht wäre es gut, wenn Sie Ihre Großmutter jetzt nach Hause bringen.« Damit
    verschwand sie. Cal und Wotan erhoben sich seufzend und folgten ihr.
    »Fiona, wie konntest ... «, hob Leslie an,
    aber Fiona schnitt ihr sofort das Wort ab. »Ich möchte jetzt nicht nach Hause. Ich habe noch
    eine wichtige Unterredung mit Chad zu führen. Fahr allein. Ich nehme dann ein Taxi.«
    »Bis du hier draußen ein Taxi bekommst ...
    «
    »Ich sagte doch, ich muss etwas mit Chad
    besprechen. Es kann etwas dauern. Also, entweder du wartest, oder du lässt mich mit dem Taxi
    fahren.« Damit stand sie auf und bedeutete Chad, ihr zu folgen. Hilflos und wütend sah Leslie
    zu, wie sich ihre Großmutter, nachdem sie einen gewaltigen Berg Porzellan mutwillig zerschlagen
    hatte, ohne sich dazu noch einmal zu äußern oder wenigstens einen Funken Betroffenheit zu
    zeigen, ihren eigenen Belangen zuwandte. Als wäre nichts geschehen. Und das war so überaus
    typisch für sie.
    »Nein, ich glaube allerdings nicht, dass
    ich warten will«, hatte sie mit zorniger Stimme erwidert, »ich denke nicht, dass ich es hier
    noch einen Moment länger aushalte.«
    Fiona hatte mit den Schultern gezuckt.
    Leslie liebte ihre Großmutter, aber sie wusste auch, dass diese hinter einer Fassade
    unfassbarer Kälte und Hochmütigkeit abtauchen konnte, wenn sie sich auf Menschen oder
    Situationen nicht einlassen wollte, und sie hatte sich plötzlich daran erinnert, wie oft sie
    als schwieriger, pubertierender Teenager mit diesem Verhalten konfrontiert worden war und wie
    sehr sie darunter gelitten hatte. Alte Verletzungen begannen zu schmerzen, und sie dachte
    jetzt, dass diese der Grund gewesen waren, weshalb sie gemeint hatte, keine Sekunde länger auf
    der Farm bleiben zu wollen.
    Sie hatte es einfach keinen Moment mehr in
    der Nähe ihrer Großmutter ausgehalten. Und deshalb war auch klar gewesen, dass sie nicht sofort
    in die Wohnung der alten Frau zurückkonnte, in der sie zu allem Überfluss nicht einmal einen
    Schnaps oder Brandy vorfinden würde, um ihrer Wut und Traurigkeit die Schärfe zu
    nehmen.
    Sie hatte sich von Colin verabschiedet -
    seltsamer, undurchsichtiger Typ, hatte sie gedacht -, und er hatte ihr versichert, er werde
    sich darum kümmern, dass Fiona ein Taxi bekam. Gwen wusste sie bei Jennifer in guten Händen.
    Sie stieg in ihr Auto und brauste los, und als sie in Burniston an einem hell erleuchteten Pub
    vorbeikam, bremste sie ab, bog auf den Parkplatz und stieg aus. The Three Jolly Sailors war an
    diesem Abend fast ausschließlich von Männern besucht, deren teils einfach überraschte, teils
    anzügliche Blicke der fremden Frau folgten, als sie schnurstracks zur Bar ging und auf einem
    der lederbezogenen Barhocker Platz nahm. Im ländlichen Yorkshire gingen Frauen nicht ohne
    Begleitung in Kneipen, aber das war Leslie völlig egaL Sie bestellte einen doppelten Whisky,
    dann noch einen und noch einen, und sie hielt es jetzt im Nachhinein für möglich, dass noch ein
    weiterer dazugekommen war. Sie erinnerte sich an den intensiven Geruch nach
    Desinfektionsmittel, der aus den Toiletten kam, und an den alten, freundlichen Barkeeper, der
    ihr irgendwann einen Teller mit Käse überbackener Pommes frites hingestellt hatte.
    »Sie sollten auch etwas essen
    zwischendurch«, hatte er gesagt, aber ihr war vom Anblick der matschigen Fritten und des
    zerlaufenen Käses fast übel geworden. Ein Mann versuchte sie anzusprechen, aber sie fauchte

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