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Das andere Kind

Titel: Das andere Kind Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Das andere Kind
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ihn
    so aggressiv an, dass er erschrocken das Weite suchte. Sie wusste, dass sie, als sie um
    Mitternacht leise schwankend zum Parkplatz ging, auf keinen Fall mehr hätte Auto fahren dürfen,
    aber auch das war ihr egal. Immerhin langte sie ohne Polizeikontrolle und ohne dass es zu
    irgendeinem Malheur gekommen wäre, daheim an.
    Daheim ... Zurzeit war dies das protzige,
    riesige weiße Appartementhaus, in dem ihre Großmutter eine Wohnung besaß,
    Princeof-Wales-Terrace, South Cliff, eine der ersten Adressen in Scarborough. Mit Blick über
    die ganze Südbucht. Und dennoch hatte sich Leslie dort nie wohlgefühlt. Und tat es auch nicht
    in dieser Nacht.
    Die Tabletten hatten sich aufgelöst. Leslie
    trank das Wasser in kleinen Schlucken. Sie hatte keine Lust auf einen Kater, der alles noch
    schlimmer machen würde.
    Was würde er schlimmer machen? Sie starrte
    ihr Spiegelbild über dem Waschbecken an. Es war schlimm, wie rücksichtslos Gwen der Abend
    verdorben worden war, und es blieb nur zu hoffen, dass Dave Tanner nicht für immer verschwunden
    war. Aber lag es daran, wirklich nur daran, weshalb sie sich in diesem Moment so elend
    fühlte?
    Es liegt daran, dass sie so kalt ist, so
    scheißkalt, dachte sie und meinte Fiona, und dass ich eigentlich weg möchte, sofort, am
    liebsten noch heute Nacht, und dass ich Angst habe, in meine Wohnung zurückzukehren.
    Die Wohnung, die so leer war, seit Stephen
    gegangen war. Die Wohnung, in der alles sie an ihn erinnerte. Die Wohnung, in der vor zwei
    Jahren ihr Leben in die Brüche gegangen war, Liebe, Glück, Zusammengehörigkeitsgefühl,
    Geborgenheit, Zukunftspläne.
    Sie sah Stephens leicht gerötetes Gesicht
    vor sich. Hörte seine leise Stimme. »Ich muss dir etwas sagen, Leslie ... «
    Und sie hatte gedacht: Sag es nicht, sag es
    lieber nicht! Weil sie für den Bruchteil einer Sekunde geahnt hatte, dass nun etwas kam, was
    ihr ganzes Leben verändern würde. Sie hatte es gespürt und aufhalten wollen, aber es war nicht
    aufzuhalten gewesen, und bis heute saß sie zwischen den Trümmern jenes Abends und konnte es
    nicht fassen.
    Sie leerte das Glas mit
    den aufgelösten Aspirin. Du bist betrunken, Leslie, sagte sie zu sich selbst, deshalb bist du
    so sentimental. Stephen ist nicht gegangen, du hast ihn rausgeworfen, und das war richtig.
    Alles andere wäre ein langsames Sterben geworden. Du lebst seit zwei Jahren allein in der
    Wohnung, und du kommst gut klar, also wirst du morgen ohne Probleme dorthin zurü ckkehren. Nicht heute
    Nacht. In deinem Zustand donnerst du noch gegen einen
    Brückenpfeiler.
    Sie verließ das Bad, schlich auf
    Zehenspitzen an Fionas Zimmer vorbei. Als sie die Tür ihres eigenen Zimmers hinter sich
    schloss, atmete sie erleichtert auf Der Raum drehte sich ein wenig, und sie hatte etwas Mühe,
    einzelne Gegenstände mit den Augen zu fixieren.
    Der letzte Whisky war definitiv einer
    zu viel, dachte sie schläfrig, und: Vielleicht hätte ich doch die Fritten essen sollen
    ...
    Irgendwie kam sie aus ihren Kleidern,
    ließ alles achtlos zu Boden fallen, schlüpfte in ihren Schlafanzug und kroch in ihr Bett. Laken
    und Decke fühlten sich kalt an. Fröstelnd rollte sie sich zusammen. Wie ein Embryo.
    Dr. Leslie Cramer, Radiologin,
    neununddreißig, geschieden. Lag sturzbetrunken in einem eiskalten Bett in Scarborough, und
    niemand gab ihr Wärme. Niemand.
    Sie fing an zu weinen. Dachte wieder
    an ihre leere Wohnung in London und weinte noch heftiger. Sie zog dabei die Decke vor ihr
    Gesicht, wie sie es als Kind getan hatte. Damit niemand ihr Weinen hörte.
    Er hasste Szenen
    wie die beim Abendessen. Er hasste es, wenn Gefühle hochkochten, wenn Emotionen aus dem Ruder
    liefen, wenn Frauen heul ten, wenn seine Tochter sich in ihrem Zimmer einschloss, wenn alles auseinander stob, und wenn er bei
    alldem den Eindruck hatte, von vorwurfsvollen Blicken getroffen zu werden, weil man offenbar
    erwartete, dass er irgendetwas tat, dem Chaos Einhalt zu gebieten. Eine Erwartung, die er nicht
    erfüllen konnte, aber vielleicht hatte er überhaupt nie irgendjemandes Erwartungen erfüllt, und
    darin mochte das entscheidende Problem seines Lebens liegen.
    Chad Beckett war dreiundachtzig
    Jahre alt. Aller Wahrscheinlichkeit nach würde er sich in diesem Leben nicht mehr
    ändern.
    Es war fünf Uhr in der Frühe an
    diesem Sonntagmorgen, aber das war für Chad keine ungewöhnliche Zeit, um aufzustehen. Als die
    Farm noch in Betrieb gewesen war, hatte sein Vater oft

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