Das andere Kind
etwas ... mit der Geschichte damals
zu tun hat?« Er hatte sofort gewusst, was sie meinte. „Nein. Wie kommst du darauf? Das ist ewig
her.«
„J a, aber ... es muss nicht zu Ende sein, oder?« „Wer sollte denn deswegen bei dir
anrufen?«
Sie erwiderte nichts, doch er kannte
sie gut genug, um zu wissen, dass sie einen konkreten Verdacht hatte. Er ahnte, welcher Name
ihr im Kopfherumging.
„Das glaube ich
nicht«, sagte er. „Weshalb jetzt? Nach all den Jahren ... Ja, weshalb jetzt?«
»Ich glaube nicht, dass sie
jemals aufgehört hat, mich zu hassen.«
»Lebt sie denn überhaupt
noch?«
»Ich glaube, ja. Oben in
Robin Hood's Bay ... «
»Steigere dich da nicht
hinein«, hatte er gewarnt. »Unsinn«, hatte sie erwidert, so barsch und kurz angebunden, wie sie
sein konnte, aber die Hand, mit der sie ihre Zigarette hielt, hatte ein klein wenig
gezittert.
Dann
war sie mit ihrem eigentlichen Anliegen herausgerückt. »Ich möchte, dass du die E-Mails
löschst. Alle, die ich dir geschrieben habe. Also, die ich dir in ... dieser Sache geschrieben habe.«
»Löschen? Wieso
denn?«
»Es erscheint mir
sicherer.«
»Niemand kann sie
lesen.«
»Immerhin benutzt
Gwen denselben Computer.«
»Aber ich denke,
deshalb musste ich doch dieses Ding, dieses Passwort bekommen. Scheint auch nichts zu nützen,
oder wie? Blödsinn, das alles, diese ganze Computertechnik ...
Jedenfalls glaube ich
nicht, dass Gwen versuchen würde, in meinen Angelegenheiten zu schnüffeln. Sie interessiert
sich gar nicht so sehr für mich.«
Zum ersten Mal
während dieses Gesprächs hatte sie gelächelt. Eher anzüglich als erheitert.
»Da schätzt du sie,
glaube ich, falsch ein. Du kommst bei ihr gleich nach dem lieben Gott. Aber für
zwischenmenschliche Beziehungen hattest du noch nie eine Antenne. Trotzdem« - sie war wieder
ernst geworden - »bitte ich dich, die Mails zu löschen. Ich würde mich sicherer
fühlen.«
Der Computer war nun bereit, und Chad rief seinen Posteingang auf. Fünf Mails hatte ihm Fiona im Lauf des vergangenen halben
Jahres geschickt - fünf Mails jedenfalls mit angehängter Datei. Dazwischen tummelten sich auch
ihre normalen Grußbotschaften.
Aufmunterndes,
wenn das Wetter schlecht war und sie ahnte, dass er Schmerzen leiden musste. Bissiges, wenn sie
ärgerlich war, dass er sich so lange nicht mehr bei ihr gemeldet hatte. Ironisches, wenn sie
irgendeinen alten gemeinsamen Bekannten getroffen hatte und nun hemmungslos über ihn herzog.
Manchmal kommentierte sie einen Film, den sie gesehen hatte. Manchmal jammerte sie über das
Altwerden. Aber nie hatte sie ein Wort über früher verloren. Ihrer beider gemeinsame
Vergangenheit.
Bis zum März
dieses Jahres. Da war plötzlich die erste Datei eingetroffen, zusammen mit der Instruktion, wie
sie zu öffnen war.
»Warum?«, hatte er gefragt in seiner Antwortmail, nichts sonst, nur dieses warum, in schrägen, fettgedruckten Buchstaben,
gefolgt von mindestens zehn Fragezeichen. Ihre Antwort hatte gelautet: »Weil ich mit mir ins
Reine kommen muss. Weil ich es jemandem erzählen muss. Da es niemand sonst wissen darf, kommst
nur du in Frage!« Seine Antwort: »Ich weiß doch sowieso alles!«
Und sie
darauf: »Deshalb bist du ungefährlich.«
Jetzt
dachte er: Sie kommt nicht zurecht damit.
Er
erinnerte sich, sie am gestrigen Abend gefragt zu haben, worin denn der Auslöser bestanden
hatte. Der Auslöser, das alles aufzuschreiben, das, was niemand wissen durfte, nur er, der es
ohnehin wusste und der gar nicht gern daran erinnert wurde.
Sie hatte
überlegt, geraucht und dann gesagt: »Vielleicht war der Auslöser das Bewusstsein, dass mein
Leben nicht mehr so lange dauern wird.«
»Bist du
krank?« »Nein. Aber alt. Es kann ja nun nicht mehr allzu lange dauern, da muss man sich nichts
vormachen.«
Er hatte
einiges von dem gelesen, was sie ihm geschrieben hatte, aber nicht alles. Oft hatte er sich
einfach überfordert gefühlt. War wütend geworden, weil sie alles wieder aufwärmen musste. An
alte Wunden rührte. Lange Begrabenes ans Tageslicht brachte.
Er
klickte die erste Mail an. Sie datierte vom 28. März. Der Stil des Inhalts war typisch für
Fiona.
»Chad, hallo, geht es dir heute gut? Das Wetter ist trocken und warm, es muss dir gut gehen! Ich habe etwas aufgeschrieben, das du
lesen solltest. Es ist ausschließlich für dich bestimmt. Du kennst die Geschichte, aber
vielleicht nicht jedes Detail. Du bist
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