Das andere Kind
Ich bemühte mich, meine Stimme schnippisch klingen zu lassen, aber
mein Herz klopfte heftig.
»Na ja, man hört da schlimme Geschichten«, meinte meine Nachbarin mit einer gewissen
Sensationslust, »man kann in ganz furchtbare Familien geraten. Vielleicht musst du den ganzen
Tag schwer arbeiten und bekommst fast nichts zu essen. Außerdem misshandeln sie dich. Und zwar
ganz furchtbar. Ich habe von einem Fall gehört, wo ... «
»So ein Quatsch!«, unterbrach ich sie, aber innerlich war ich viel entsetzter, als ich zugab.
Und wenn sie recht hatte? Wenn die Hölle auf mich wartete? Dann laufe ich weg, nahm ich mir
vor, und wenn ich zu Fuß nach London muss, ich bleibe nicht an einem Ort, an dem man mich
schlecht behandelt!
Die Erwachsenen hatten uns gegenüber Aufstellung genommen, und eine der Schwestern begann Namen
von ihrer Liste abzulesen. Die aufgerufenen Kinder mussten nach vorn kommen und wurden ihren
neuen Familien zugeteilt. Hauptsächlich handelte es sich offenbar um Verwandte, aber in
einzelnen Fällen schien es im Vorfeld Absprachen und Zuteilungen gegeben zu haben, ohne dass
verwandtschaftliche Verhältnisse vorlagen. Ich hoffte zutiefst, dass es ehrenvolle Motive
waren, die diese Menschen bewegten, Hilfsbereitschaft und Mitleid, aber ich hegte erhebliche
Zweifel. Tante Edith hatte mir erzählt, dass Familien, die evakuierte Kinder aufnahmen, von der
Regierung Geld dafür bekamen. Ich erinnerte mich, dass meine Mutter sehr ärgerlich geworden war
und Tante Edith ihre »ewige Schwatzsucht« vorgeworfen hatte. Sie hatte nicht gewollt, dass ich
von dem Geld erfuhr, weil es natürlich die lauteren Absichten der Aufnahmefamilien in Frage
stellte.
Das Mädchen neben mir wurde aufgerufen, stürmte nach vorn und fiel jubelnd einer jungen Frau in
die Arme, die es an sich drückte und den Tränen nahe schien. Die Tante. Ich beneidete das
Mädchen glühend. Ich hatte mir früher nie Gedanken gemacht, weshalb ich - außer Tante Edith und
ihrer Brut in London - keine Verwandten hatte, aber in diesem Moment empfand ich diesen Umstand
als einen schmerzhaften Mangel in meinem Leben. Wie schön wäre es, mich jetzt an einen Menschen
schmiegen zu können, der mich kannte und liebte.
Stattdessen saß ich in der Dunkelheit eines Novemberabends, schwach
erleuchtet nur von etlichen Öllampen, die herausgebracht worden waren, auf einem Feld irgendwo
in Yorkshire, weit weg von allem, w as mir vertraut war, und
hatte keine Ahnung, wie meine Zukunft aussehen würde. An meiner
Seite einen kleinen traumatisierten Jungen, der unablässig die Strümpfe streichelte, die ich
ihm angezogen hatte, und der entschlossen schien, sich niemals wieder von meiner Seite
fortzubewegen. Und nun kamen die Leute, die noch kein Kind zugeteilt bekommen hatten, auf uns,
die wir noch nicht aufgerufen worden waren, zu, gingen langsam durch die Reihen, leuchteten uns
mit Taschenlampen oder Stalllaternen an und suchten aus, wen sie mitnehmen wollten. Wir wurden
begutachtet und taxiert, anschließend entweder abgelehnt oder erwählt. Noch heute, während ich
dies schreibe, kann ich empfinden, wie klein, wie erniedrigt, ausgeliefert und schutzlos ich
mich gefühlt habe. In der heutigen Zeit wäre ein solches Vorgehen undenkbar. Im England des 21.
Jahrhunderts kann man sich das Bild von Kindern, die auf einem Acker aufgereiht sitzen und fast
wie auf einem Wochenmarkt angeboten werden, nicht mehr vorstellen. Aber es geschah unter der
Besonderheit jener Jahre. Die Heftigkeit der deutschen Bombenangriffe auf London hatte alle
überrascht, und die Zahl der Opfer überstieg alles, was man befürchtet hatte. Die
Luftverteidigung der britischen Hauptstadt hatte sich als ziemlich schlecht ausgerüstet und
damit ineffektiv erwiesen. Der Gedanke, man müsse die Kinder aufs Land bringen, um sie zu
schützen, egal, unter weichen Umständen, hatte erste Priorität. Die Zeit, alles perfekt zu
organisieren, hatte gefehlt. Um die Psyche der Kinder konnte man sich keine Gedanken mehr
machen. Sie mussten das alles eben irgendwie aushalten.
Eine Frau blieb vor mir stehen und beugte sich zu mir herunter. Sie schien nicht viel älter zu
sein als meine Mutter, hatte ein freundliches Gesicht mit auffallend fein geschnittenen Zügen.
Sie lächelte.
»Wie heißt du denn?«, fragte sie und beantwortete sich die Frage gleich darauf selbst, indem
sie das Schild las, das ich angesteckt trug: »Fiona Swales. Und du bist geboren am 29.
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