Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Das andere Kind

Titel: Das andere Kind Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Das andere Kind
Vom Netzwerk:
Ich bemühte mich, meine Stimme schnippisch klingen zu lassen, aber
    mein Herz klopfte heftig.
    »Na ja, man hört da schlimme Geschichten«, meinte meine Nachbarin mit einer gewissen
    Sensationslust, »man kann in ganz furchtbare Familien geraten. Vielleicht musst du den ganzen
    Tag schwer arbeiten und bekommst fast nichts zu essen. Außerdem misshandeln sie dich. Und zwar
    ganz furchtbar. Ich habe von einem Fall gehört, wo ... «
    »So ein Quatsch!«, unterbrach ich sie, aber innerlich war ich viel entsetzter, als ich zugab.
    Und wenn sie recht hatte? Wenn die Hölle auf mich wartete? Dann laufe ich weg, nahm ich mir
    vor, und wenn ich zu Fuß nach London muss, ich bleibe nicht an einem Ort, an dem man mich
    schlecht behandelt!
    Die Erwachsenen hatten uns gegenüber Aufstellung genommen, und eine der Schwestern begann Namen
    von ihrer Liste abzulesen. Die aufgerufenen Kinder mussten nach vorn kommen und wurden ihren
    neuen Familien zugeteilt. Hauptsächlich handelte es sich offenbar um Verwandte, aber in
    einzelnen Fällen schien es im Vorfeld Absprachen und Zuteilungen gegeben zu haben, ohne dass
    verwandtschaftliche Verhältnisse vorlagen. Ich hoffte zutiefst, dass es ehrenvolle Motive
    waren, die diese Menschen bewegten, Hilfsbereitschaft und Mitleid, aber ich hegte erhebliche
    Zweifel. Tante Edith hatte mir erzählt, dass Familien, die evakuierte Kinder aufnahmen, von der
    Regierung Geld dafür bekamen. Ich erinnerte mich, dass meine Mutter sehr ärgerlich geworden war
    und Tante Edith ihre »ewige Schwatzsucht« vorgeworfen hatte. Sie hatte nicht gewollt, dass ich
    von dem Geld erfuhr, weil es natürlich die lauteren Absichten der Aufnahmefamilien in Frage
    stellte.
    Das Mädchen neben mir wurde aufgerufen, stürmte nach vorn und fiel jubelnd einer jungen Frau in
    die Arme, die es an sich drückte und den Tränen nahe schien. Die Tante. Ich beneidete das
    Mädchen glühend. Ich hatte mir früher nie Gedanken gemacht, weshalb ich - außer Tante Edith und
    ihrer Brut in London - keine Verwandten hatte, aber in diesem Moment empfand ich diesen Umstand
    als einen schmerzhaften Mangel in meinem Leben. Wie schön wäre es, mich jetzt an einen Menschen
    schmiegen zu können, der mich kannte und liebte.
    Stattdessen saß ich in der Dunkelheit eines Novemberabends, schwach
    erleuchtet nur von etlichen Öllampen, die herausgebracht worden waren, auf einem Feld irgendwo
    in Yorkshire, weit weg von allem, w as mir vertraut war, und
    hatte keine Ahnung, wie meine Zukunft aussehen würde. An meiner
    Seite einen kleinen traumatisierten Jungen, der unablässig die Strümpfe streichelte, die ich
    ihm angezogen hatte, und der entschlossen schien, sich niemals wieder von meiner Seite
    fortzubewegen. Und nun kamen die Leute, die noch kein Kind zugeteilt bekommen hatten, auf uns,
    die wir noch nicht aufgerufen worden waren, zu, gingen langsam durch die Reihen, leuchteten uns
    mit Taschenlampen oder Stalllaternen an und suchten aus, wen sie mitnehmen wollten. Wir wurden
    begutachtet und taxiert, anschließend entweder abgelehnt oder erwählt. Noch heute, während ich
    dies schreibe, kann ich empfinden, wie klein, wie erniedrigt, ausgeliefert und schutzlos ich
    mich gefühlt habe. In der heutigen Zeit wäre ein solches Vorgehen undenkbar. Im England des 21.
    Jahrhunderts kann man sich das Bild von Kindern, die auf einem Acker aufgereiht sitzen und fast
    wie auf einem Wochenmarkt angeboten werden, nicht mehr vorstellen. Aber es geschah unter der
    Besonderheit jener Jahre. Die Heftigkeit der deutschen Bombenangriffe auf London hatte alle
    überrascht, und die Zahl der Opfer überstieg alles, was man befürchtet hatte. Die
    Luftverteidigung der britischen Hauptstadt hatte sich als ziemlich schlecht ausgerüstet und
    damit ineffektiv erwiesen. Der Gedanke, man müsse die Kinder aufs Land bringen, um sie zu
    schützen, egal, unter weichen Umständen, hatte erste Priorität. Die Zeit, alles perfekt zu
    organisieren, hatte gefehlt. Um die Psyche der Kinder konnte man sich keine Gedanken mehr
    machen. Sie mussten das alles eben irgendwie aushalten.
    Eine Frau blieb vor mir stehen und beugte sich zu mir herunter. Sie schien nicht viel älter zu
    sein als meine Mutter, hatte ein freundliches Gesicht mit auffallend fein geschnittenen Zügen.
    Sie lächelte.
    »Wie heißt du denn?«, fragte sie und beantwortete sich die Frage gleich darauf selbst, indem
    sie das Schild las, das ich angesteckt trug: »Fiona Swales. Und du bist geboren am 29.

Weitere Kostenlose Bücher