Das andere Kind
die Bucht, ließ die Schaumkronen auf den dunkelblauen Wellen glitzern.
Der Himmel wölbte sich hoch und gläsern. Einige Segelboote waren unterwegs. Sicher würde es
noch einmal recht warm werden.
Seltsam war nur, dass nichts in der Küche auf ein
Frühstück hinwies. Weder darauf, dass Fiona irgendwann am Morgen gefrühstückt hatte, noch
darauf, dass sie irgendetwas für ihre Enkelin vorbereitet hatte. Was sie für gewöhnlich tat.
Wenigstens den Kaffee hätte sie auf der Warmhalteplatte der Kaffeemaschine zurückgelassen. Aber
als Leslie die Maschine näher in Augenschein nahm, stellte sie fest, dass sich in der gläsernen
Kanne noch der abgestandene Kaffeerest vom gestrigen Tag befand; als sie die Kanne ergriff,
schwappte die Brühe und hinterließ braune Ränder auf dem Glas. Seit über vierundzwanzig Stunden
hatte sich niemand mehr hier zu schaffen gemacht.
Leslie runzelte irritiert die Stirn. Auf zwei
Dinge konnte ihre Großmutter am Morgen nicht verzichten: auf mindestens zwei Tassen starken
schwarzen Kaffees und auf eine Zigarette. Dass sie aufstand und spazieren ging, ohne beides zu
sich genommen zu haben, war fast unvorstellbar.
Leslie ging hinüber ins Wohnzimmer. Leere.
Stille. Keine Asche im Aschenbecher. Konnte es sein, dass Fiona gegen halb zwölf am Mittag noch
schlief?
Nun begab sich Leslie kurzentschlossen zu Fionas
Zimmer, öffnete leise die Tür. Sie konnte das Bett sehen, das sorgfältig mit der blauen
Tagesdecke abgedeckt war. Die Vorhänge am Fenster waren offen. Fionas Hausschuhe standen vor
dem Kleiderschrank. Das Zimmer sah genauso aus, wie es tagsüber immer aussah. Ob jemand in der
Nacht hier geschlafen hatte, ließ sich nicht erkennen.
Vielleicht hatte Fiona noch die halbe Nacht mit
Chad Beckett geredet und sich schließlich entschieden, gleich draußen auf der Farm zu
übernachten. Womöglich hatte sie ebenso wenig Lust auf ein Gespräch mit ihrer Enkelin, wie das
umgekehrt der Fall war. Leslie, die noch immer wütend war, deren Aggressionen sich jedoch durch
den schweren Kater, unter dem sie litt, gedämpft anfühlten, dachte, dass sie sich am besten gar
nicht darum kümmern sollte. Fiona hatte sich unmöglich benommen, und es schadete nichts, wenn
sie merkte, dass die Menschen, die ihr nahe standen, verstört und nicht so leicht wieder zu
besänftigen waren. Colin oder Jennifer konnten sie nach Scarborough zurückbringen, oder sie
nahm doch noch ein Taxi. Sie selbst machte sich jetzt am besten einen Kaffee, strich sich ein
paar Brote für unterwegs und trat dann die Rückreise nach London an. Mit dem bevorstehenden
Umzug hatte sie genug zu tun. Was sollte sie ihre Zeit vergeuden, sich hier mit dem alten
Knochen herumzuärgern.
Trotz dieser resoluten Gedanken ging sie
schließlich wieder ins Wohnzimmer und nahm den Telefonhörer ab. Besser, sie vergewisserte sich
noch kurz, dass alles in Ordnung war. Es würde ihr ein ruhigeres Gefühl auf der Heimfahrt
geben.
Es dauerte eine Weile, bis auf der Beckett-Farm
jemand abnahm. Dann hörte Leslie Gwens Stimme. Sie klang, als habe die junge Frau stundenlang
geweint - was nicht verwunderlich war nach den Geschehnissen.
»Hallo, Leslie«, sagte
sie, und allein diese beiden Worte klangen so trostlos, dass es Leslie ins Herz schnitt. »Bist du gut heimgekommen
gestern?«
»Ja. Alles okay. Ich habe allerdings leider
einen Umweg über ein Pub genommen, und nun fühle ich mich, als steckte mein Kopf in einem
Schraubstock, aber das wird schon wieder. Gwen, Fiona hat sich gestern unmöglich aufgeführt.
Ich möchte, dass du weißt, dass ich hundertprozentig auf deiner Seite stehe.«
»Danke«, sagte Gwen leise, »ich weiß, dass
du das nicht gewollt hättest.« »Hast du ... hat sich Dave inzwischen bei dir gemeldet?« »Nein.«
Nun fing Gwen wieder an zu weinen. »Er hat sich nicht gemeldet. Und er geht auch nicht an sein
Handy. Ich habe ein dutzend Mal versucht, ihn zu erreichen. Ich habe ihm vier SMS geschrieben,
aber darauf reagiert er auch nicht. Leslie, er ist fertig mit mir. Er hat keine Lust mehr. Und
ich kann das verstehen!«
»Warte doch ab«, tröstete Leslie,
»natürlich ist er jetzt schwer gekränkt. Fiona hat ihn heftig angegriffen, und das auch noch
vor der ganzen Runde. Kein Wunder, dass er erst einmal untertaucht. Aber ich bin sicher,
irgendwann kommt er wieder aus der Deckung.«
Gwen putzte sich geräuschvoll die
Nase.
»Glaubst du denn, dass sie recht hat?«,
fragte sie
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