Das andere Kind
Wir gingen den Weg hinunter, bogen nach links ab und
liefen ein Stück die Straße entlang, bis wir auf der linken Seite eine Kirche erblickten. Davor
am Straßenrand parkte ein Geländewagen, eine Art Jeep mit zwei offenen Bänken auf dem
rückwärtigen Teil. Eine große Stalllaterne, die auf einer der Bänke abgestellt war, gab der
ganzen Szenerie ein wenig Licht. Als wir näher kamen, löste sich ein Schatten von der
Fahrertür. Jemand hatte dort, am Auto lehnend, auf uns gewartet. Ein großer Jun ge, der fünfzehn oder sechzehn Jahre alt sein
mochte, trat in den Lichtkegel der Laterne. Er trug lange Hosen und einen dicken Pullover,
kaute auf irgendetwas herum - einem Grashalm, wie ich feststellte, als ich dicht vor ihm stand
- und machte ein überaus mürrisches Gesicht. Im Gegensatz zu Emma schien ihn unser Aufkreuzen
keineswegs zu erfreuen.
»Das ist Chad, mein Sohn«, sagte Emma und packte im Vorbeigehen meinen Koffer auf die
Ladefläche des Autos. »Chad, das ist Fiona Swales. Und das hier ist Brian
Somerville.«
Chad starrte uns an. »Ich dachte, du wolltest ein Kind aufnehmen. Jetzt sind es zwei!«
»Ich erkläre dir das später«, meinte Emma nur.
Ich streckte Chad die Hand hin. Nach einigem Zögern ergriff er sie. Wir musterten einander. Ich
sah Ablehnung in seinem Blick, aber auch Interesse.
»Chad hat keine Geschwister«, erklärte Emma, »und ich dachte, es könnte ganz schön für ihn
sein, eine Zeitlang mit anderen Kindern unter einem Dach zu leben.«
Das sah Chad deutlich anders, aber vermutlich war das Thema schon so oft und so hitzig zwischen
ihm und seiner Mutter diskutiert worden, dass er es nicht wagte, in diesem Moment seine Ansicht
allzu deutlich kundzutun. Er murmelte etwas und schwang sich dann auf die Bank hinauf. »Nimm
die beiden Kleinen mit nach vorne, Mum«, sagte er. Ich ärgerte mich, dass er mich als klein
bezeichnete, und noch mehr darüber, dass er mich mit Brian, der in meinen Augen fast noch ein
Baby war, in einen Topf warf.
»Ich bin elf Jahre alt«, erklärte ich herausfordernd und reckte das Kinn, um ein kleines
bisschen größer zu wirken.
Jetzt grinste Chad. Er musterte mich von der Höhe des Wagens herab.
»Ehrlich schon elf? Donnerwetter!«, sagte er, und selbst ich kapierte, dass er sich über mich
lustig machte. »Ich bin fünfzehn, und ich habe keine Lust, mich mit dir oder mit diesem
Kleinkind an deinem Arm abzugeben. Verstanden? Ihr lasst mich in Ruhe, ich lasse euch in Ruhe,
und im Übrigen warten wir darauf, dass die Deutschen endlich den Krieg verlieren und alles
wieder normal wird!«
»Chad!«, mahnte Emma.
Wir stiegen in das Auto. Aber obwohl Chad mich wirklich unfreundlich behandelt hatte, war er
der erste Mensch an diesem Tag, der es geschafft hatte, meine Laune etwas zu heben. Warum, das
konnte ich mir selbst nicht erklären. Aber als wir von der Kirche wegrollten, hinein in die
Dunkelheit und Ungewissheit, war mir nicht mehr ganz so schwer ums Herz. Ich spürte, dass ich
ein klein wenig neugierig war auf das, was mich erwartete.
SONNTAG, 12. OKTOBER
Leslie wachte mit entsetzlichen Kopfschmerzen auf
und fragte sich, nachdem sie sich so weit sortiert hatte, dass sie sich an den vergangenen
Abend erinnern konnte, wie elend sie sich wohl erst fühlen würde, hätte sie nicht die zwei
Aspirin noch genommen.
Sie quälte sich aus dem Bett und schwankte aus
ihrem Zimmer. Sie hatte fürchterlichen Durst. Mund und Hals waren ausgedörrt und brannten. Sie
ging in die Küche, drehte den Wasserhahn auf, beugte sich darunter und ließ sich das eiskalte
Wasser in den Mund laufen. Dann spritzte sie sich Wasser ins Gesicht, um wach zu
werden.
Als sie sich aufrichtete, fühlte sie sich etwas
besser.
Der Blick auf die Küchenuhr zeigte ihr, dass es
gegen Mittag ging. Sie musste wie eine Tote geschlafen haben, was ganz untypisch für sie war,
denn für gewöhnlich stand sie immer sehr früh auf, selbst dann, wenn es am Vorabend spät
geworden war. Genau wie ihre Großmutter. Fiona war stets in den ersten Morgenstunden auf den
Beinen. Leslie erinnerte sich, wie oft sie sich als Teenager von der Energie der alten Frau
förmlich erschlagen gefühlt hatte.
Im Augenblick war von ihr jedoch nichts zu hören
oder zu sehen. Die Wohnung lag wie ausgestorben.
Vielleicht machte sie einen Spaziergang. Leslie
blickte durch eines der Fenster hinaus. Wieder ein wunderschöner Tag. Die Sonne warf von Süden
her ihre Strahlen über
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