Das andere Kind
Juli
1929. Dann bist du elf Jahre alt.«
Ich nickte. Aus irgendeinem Grund brachte ich keinen Ton heraus. Sie streckte mir die Hand hin.
»Ich bin Emma Beckett. Ich wohne auf einer Farm nicht weit von hier. Ich habe im Radio von der
Evakuierung der Londoner Kinder gehört und mir gewünscht, dabei zu helfen. Hättest du Lust, für
eine Weile bei uns zu wohnen?«
Wieder nickte ich. Sie musste mich allmählich für stumm halten. Sie war wirklich nett, und mir
war klar, dass ich es weit schlimmer hätte treffen können.
Eine Farm... Ich war noch nie im Leben auf einer Farm gewesen. Sie schaute Brian an. »Und das
ist dein kleiner Bruder?« Brian, der noch immer auf seine Strümpfe fixiert gewesen war, merkte,
dass es um ihn ging. Sofort klammerte er sich schutzsuchend an meinen Arm. Ich versuchte ihn
abzuschütteln, aber er ließ mich nicht los. »Nein.« Endlich hatte ich meine Sprache wieder
gefunden. »Ich habe keinen Bruder. Das hier ist ein Nachbarsjunge von uns. Er ist ... er sollte
gar nicht mit hierher ... «
»Nein?«, fragte Emma Beckett überrascht. »Wissen denn seine Eltern, dass er hier
ist?«
»Seine Eltern sind tot«, erklärte ich, »und seine Geschwister auch. Die ganze Familie, bis auf
ihn. Vorletzte Nacht ist ihr Haus von einer Bombe getroffen worden.«
Emma Beckett sah zutiefst erschüttert aus. »Das ist ja furchtbar! Was machen wir denn jetzt mit
ihm?« Sie wandte sich um und winkte eine junge Frau herbei, der sie in kurzen Worten die
Situation schilderte. Die Frau begann sofort hektisch zu atmen und wirkte überfordert. Sie
blätterte wie wild in ihren Listen.
»Er steht nicht auf der Liste?«, fragte sie. »Wie heißt er denn?«
»Brian Somerville«, sagte ich.
Sie blätterte erneut und schüttelte den Kopf. »Der ist hier nicht aufgeführt!«
Das hatte ich ja gleich gesagt. Ich schilderte, wie er an uns abgegeben worden und plötzlich
mit mir im Zug gelandet war. Die junge Frau winkte nach einer Rot-Kreuz-Schwester. Ich erhob
mich, um nicht länger so klein und zusammengekauert vor den drei sich jetzt aufgeregt um uns
drängenden Erwachsenen zu sitzen. Auch Brian stand sofort mit mir auf. Er hielt sich noch immer
an meinem Arm fest.
Die Schwester konnte seinen Namen erwartungsgemäß auf ihrer Liste auch nicht finden. »Er hätte
nicht in den Zug steigen dürfen«, erklärte sie, aber für das Umsetzen dieser Erkenntnis war es
jetzt zu spät.
»Was wird nun aus ihm?«, fragte Emma Beckett noch einmal. Brian begann zu zittern. Seine
kleinen Händchen umklammerten mich so, dass es fast wehtat.
»Eigentlich muss er mit uns wieder nach London zurück«, sagte die Schwester.
»Aber dort hat er ja offenbar niemanden mehr!«, rief Emma.
»Es gibt dort Waisenhäuser.«
»Aber auch Bomben! Er ist doch hier viel sicherer!«
Die Schwester zögerte. »Ich kann ja nicht ein unregistriertes Kind einfach aus London
wegschleppen. Am Ende bekomme ich Ärger und ... «
»Wir könnten ihn in das Heim in Whitby bringen«, schlug die junge Frau vor, »da kommen auch die
Kinder hin, die heute Abend hier keine Pflegefamilie finden.«
Emma Beckett ging in die Hocke und betrachtete Brian eindringlich. »Er
steht unter Schock«, sagte sie, »ich glaube nicht, dass man ihn jetzt von Fiona trennen sollte. Sie scheint sein einziger Halt
zu sein!«
Na wunderbar! Irgendwie hatte ich es während der ganzen Fahrt geahnt. Dass ich an Brian
Somerville kleben bleiben würde und er an mir. Zwischen den Erwachsenen wurde hin und her
beratschlagt, aber schließlich stimmten unsere Begleiterinnen zu, dass Emma Beckett auch Brian
mit auf ihre Farm nehmen durfte.
»Wir werden das in London klären«, sagte die Schwester und kritzelte sich zusätzlich zu Emmas
Namen und ihrer Anschrift noch ein paar Notizen auf ihren Block. »Sie hören dann von
uns.«
»In Ordnung«, stimmte Emma erleichtert zu. Sie nahm meinen Koffer. »Kommt, Kinder. Wir fahren
nach Hause.«
Ein wenig ärgerte mich ihre Freundlichkeit. Und ihr Bemühen, die Situation
für uns einfacher zu machen. Wir fahren nach Hause! Glaubte sie ernsthaft, ich würde ihre Farm hier am Ende der Welt als mein
Zuhause empfinden, nur weil sie es so wollte? Mein Zuhause war bei meiner Mummie in London.
Nirgendwo sonst.
Brian und ich trotteten hinter ihr her, und Brian hielt sich an meinem Arm
fest. Fast hatte ich mich an dieses Gewicht schon gewöhnt, das ich nun seit bald zwölf Stunden
immer wieder mit mir herumschleppte.
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