Das andere Kind
dann. »Wer?
Fiona?« »Mit dem, was sie gesagt hat. Dass
Dave es nur ... auf die Farm abgesehen hat? Dass es ihm gar nicht um mich geht?« Leslie
zögerte. Die Unterhaltung drohte in gefährlich vermintes Terrain abzugleiten, und ausgerechnet
heute wurde sie so sehr von Kopfschmerzen geplagt.
»Ich glaube, dass Fiona das überhaupt nicht
beurteilen kann«, sagte sie und brachte gleichzeitig ihre innere Stimme zum Schweigen, die ihr
sagen wollte, dass Fiona doch immer durch eine ziemlich gute Menschenkenntnis aufgefallen war.
»Sie kennt Dave gar nicht genug. Und ich leider auch nicht. Der Abend gestern war zu kurz, als
dass ich mir ein Bild hätte machen können.«
Sie log schon wieder ein wenig. Natürlich
hatte sie Dave Tanner nicht wirklich kennen gelernt. Aber sie hatte das Misstrauen ihrer
Großmutter vom ersten Moment an geteilt. Tanner sah zu gut aus, war zu weltgewandt, als dass
man sich hätte vorstellen können, er habe sich ausgerechnet in Gwen verliebt. Die beiden waren
zu unterschiedlich, aber nicht auf die Art, die sich anzieht, sondern auf die, die sich
ausschließt. Zudem offenbarte Tanners gesamte Erscheinung seine eklatante Geldnot. Leslie
konnte absolut nachvollziehen, wie und warum Fiona zu ihren Schlussfolgerungen gelangt
war.
»Ich wünschte, du könntest zu Dave gehen
und mit ihm reden«, sagte Gwen, »damit er sieht, dass nicht alle aus der Familie gegen ihn
sind. Und vielleicht könntest du auch herausfinden, wie er ... wirklich zu mir
steht.«
»Ich wollte jetzt eigentlich gleich nach
London aufbrechen«, entgegnete Leslie unbehaglich. Der Gedanke, sich tiefer in diese ganze
unheilvolle Geschichte zu verstricken, gefiel ihr ganz und gar nicht.
»Aber du wolltest doch ein paar Tage in
Scarborough bleiben!«, rief Gwen nun erschrocken.
Leslie erklärte, dass sie ziemlich böse auf
ihre Großmutter sei und deshalb keine Lust habe, länger zu bleiben. »Ich bin richtig
erleichtert, dass ich sie heute Morgen nicht zu Gesicht bekommen muss. Hattest du das
zweifelhafte Vergnügen, mit ihr zu frühstücken, oder konntest du ihr bisher aus dem Weg
gehen?«
Auf der anderen Seite der Leitung herrschte
einen Moment lang verwirrtes Schweigen. »Wieso?«, fragte Gwen dann. »Sie ist nicht hier. Wollte
sie zu uns?«
Leslie merkte, wie ihre Fingerspitzen leise
zu kribbeln begannen. »Hat sie nicht bei euch geschlafen?« »Nein. Nach allem, was ich
mitbekommen habe, hat sie sich ein Taxi bestellt, um nach Hause zu fahren.«
»A ber es hat den Anschein, als habe sie hier gar nicht
geschlafen. « »Das ist seltsam«, sagte Gwen, »hier war sie auch nicht.«
Das Kribbeln in Leslies Fingerspitzen
wurde stärker. »Hör zu, Gwen, ich melde mich wieder. Ich muss das jetzt genau
überprüfen.«
Sie legte den Hörer auf, ging in
Fionas Schlafzimmer, öffnete den Kleiderschrank. Sehr sorgfältig inspizierte sie Kleider, Röcke
und Blusen, bis sie sicher war, dass sich das Kleid, das Fiona am Vorabend getragen hatte,
nicht unter den anderen Sachen befand. Ebenso wenig war es im Bad oder im Wäschekorb zu
entdecken. Schuhe und Handtasche fehlten ebenfalls. Da Fiona mit Sicherheit nicht im
Seidenkleid mit Stöckelschuhen und mit ihrer Handtasche spazieren ging, blieb nur die
Erkenntnis, dass sie ihre Sachen seit dem Vorabend nicht gewechselt hatte. Jedenfalls nicht
hier in ihrer Wohnung.
Sie war definitiv nicht zu Hause
gewesen.
Leslie lief in ihr Zimmer, zog sich
rasch an. Obwohl alles in ihr nach einer schönen, langen Dusche und einem starken Kaffee
schrie, brachte sie es nicht fertig, auch nur einen Moment Zeit zu vergeuden. Sie bürstete sich
kurz die Haare, nahm ihren Autoschlüssel und den Wohnungsschlüssel, lief hinaus und zog die Tür
hinter sich zu.
Drei Minuten später befand sie sich
auf dem Weg zur Beckett- Farm. Die niedrig stehende, sehr helle Sonne schien ihr ins Gesicht
und verschärfte ihren Kopfschmerz. Sie achtete nicht darauf.
»Ich habe das Taxi für sie bestellt«,
berichtete Colin. »Sie saß noch lange Zeit mit Chad zusammen, bestimmt zwei Stunden. Dann kam
sie zusammen mit Chad aus dem Arbeitszimmer und sagte, sie wolle jetzt heim. Ich hatte noch
ferngesehen und wollte gerade nach oben und schlafen gehen. Ich bot an, das Taxi zu bestellen.
Sie sagte, sie wolle ein Stück laufen, die Nacht sei ja einigermaßen hell, und ich möge bitte
das Taxi zur Whitestone-Farm bestellen. Das tat ich dann auch.«
»Zur Whitestone-Farm?«,
Weitere Kostenlose Bücher