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Das andere Kind

Titel: Das andere Kind Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Das andere Kind
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gehen
    wollen, hatte sie keine Spuren hinterlassen.
    Am Tor zur Farm
    erwartete sie Gwen, die in der Zwi- schenzeit mehrfach versucht hatte, Dave Tanner zu
    erreichen. »Er geht immer noch nicht an sein Handy«, sagte sie, »er ist einfach wie vom
    Erdboden verschluckt!«
    »Genau wie meine
    Großmutter«, erwiderte Leslie und zog ihren Autoschlüssel aus der Hosentasche. »Und deshalb
    fahre ich jetzt zu ihm. Möchtest du mitkommen, Gwen?«
    Gwen zögerte und
    zauderte und entschied sich schließlich dagegen. Leslie dachte, dass dies typisch war für ihre
    Freundin: Nie ging sie in die Offensive. Stets hielt sie sich bedeckt. Was dazu geführt hatte,
    dass sich selten etwas bewegt hatte in ihrem Leben, über lange Phasen sogar überhaupt
    nichts.
    Leslie ließ sich
    die Adresse geben und saß kurz darauf wieder in ihrem Auto. Während sie, noch immer von Kopfweh
    geplagt und um einiges zu schnell, über die sonnenhelle Landstraße fuhr, spürte sie das
    intensive Bedürfnis, Stephen anzurufen. Ihm zu sagen, dass etwas Schreckliches passiert war,
    sich Trost und Rat von ihm zu holen, seiner warmen Stimme zu lauschen, die immer eine
    beruhigende Wirkung auf sie gehabt hatte. Aber dann verbot sie sich diesen Anflug von Schwäche.
    Stephen war nicht mehr der Mann an ihrer Seite. Und es war zudem nichts Schreckliches
    passiert.
    Zumindest gab es
    dafür vorläufig keinen Anhaltspunkt.
    Dave Tanner lebte sehr zentral in der Innenstadt, wenige Schritte nur von der
    Fußgängerzone mit all ihren Kaufhäusern und kleinen Geschäf ten
    entfernt, und in unmittel barer Nähe zu den Markthallen sowie der
    Friarage School, in der er seine Kurse abhielt. Die Friargate Road wurde auf beiden Seiten von
    Reihenhäusern gesäumt, die aus rotem Backstein gebaut waren und weiß lackierte Haustüren
    hatten. Die meisten lagen ein wenig tiefer als die Straße und konnten nur über abwärtsführende
    Stufen erreicht werden, was sie souterrainähnlich und zum Teil auch etwas düster wirken
    ließ.
    Als Leslie
    anhielt und ausstieg, direkt hinter der geparkten Rostlaube von Dave Tanner, konnte sie im
    leichten Wind das Meer riechen, und das nahm ihr etwas von der Beklommenheit, die sich über ihr
    Gemüt legen wollte. Das Wasser war von hier aus zwar nicht zu sehen, aber dennoch übermittelte
    es einen Eindruck seiner Frische und Reinheit und machte selbst aus dieser eintönigen Siedlung
    etwas Besonderes.
    Sie
    betrachtete die Häuser. Ihr fiel auf, dass in beinahe jedem Vorgarten und an den meisten Mauern
    Schilder angebracht waren, die das Ballspielen auf dieser Straße untersagten. Offenbar war hier
    schon so manche Fensterscheibe zu Bruch gegangen, was sicherlich mit der Nähe der Schule
    zusammenhing, und die Bewohner versuchten nun einmütig, diese Dauergefahr von vornherein zu
    unterbinden.
    In dem Haus,
    in dem Dave Tanner lebte, bewegte sich im Erdgeschoss fast unmerklich eine gelblich verfärbte
    Gardine, was Leslie ahnen ließ, dass sie bereits genau beobachtet wurde. Schräg gegenüber auf
    der anderen Seite huschte eine junge Frau mit einem Kind auf dem Arm aus ihrem Haus heraus,
    schaute sich nervös um, ehe sie die Richtung zum St. Helen's Square einschlug, der in die
    Fußgängerzone führte. Sie warf Leslie einen misstrauischen Blick zu.
    Entweder, dachte Leslie, s ieht man in dieser Straße
    sel ten Fremde. Oder mein relativ neues Auto lässt mich ungeheuer
    exotisch erscheinen. Sie beschloss gerade zu klingeln, da nahm sie aus den Augenwinkeln eine
    Gestalt wahr, die langsam näher kam. Sie wandte sich um.
    Dave
    Tanner kam die Straße entlanggeschlendert. Ziemlich entspannt, jedenfalls vermittelte er diesen
    Eindruck. Als er Leslie entdeckte, beschleunigte er seine Schritte.
    »Sieh
    an«, sagte er, als er bei ihr angelangt war, »so hoher Besuch am Sonntag! Sind Sie als eine
    Abgesandte der Familie Beckett hier, die meine Wohnverhältnisse und mein soziales Umfeld
    überprüfen soll?«
    Da er
    sie nicht begrüßt hatte, unterließ es Leslie ebenfalls, ihm einen guten Morgen oder einen guten
    Tag zu wünschen. Ziemlich unvermittelt fragte sie: »Warum reagieren Sie nicht auf Gwens
    Anrufe?«
    Er sah
    sie verblüfft an, dann lachte er plötzlich. »Deshalb sind Sie gekommen? Um mich das zu
    fragen?«
    »Nein. Eigentlich suche
    ich me ine Großmutter. Fiona Barnes.«
    Dies schien ihn nicht weniger zu
    verwundern. »Hier? Bei mir?«
    »Sind Sie gestern Abend direkt hierher
    gefahren?«, fragte Leslie.
    Er schien belustigt.

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