Das andere Kind
einem zum anderen. »Ich traue beiden so etwas zu. Sowohl
Tanner als auch Fiona.«
„Ich weiß nicht, ich ... «,
begann Leslie, aber da läutete das Telefon. Sie beendete ihren Satz nicht, sondern wartete wie
alle anderen schweigend, bis Colin aus dem Arbeitszimmer zurückkehrte.
„Das ist in der Tat mysteriös«,
sagte er, »die haben jetzt mit dem Fahrer geredet. Er war wie vereinbart vor der Whitestone-
Farm, sollte ja dort stehen, aber keinesfalls klingeln, hat jedoch weit und breit niemanden
gesehen. Er hat eine ganze Weile gewartet, ist dann die Straße entlang langsam weitergerollt,
aber da war auch nichts. Deshalb ist er schließlich unverrichteter Dinge und ziemlich verärgert
nach Hause gefahren. In der Zentrale hatte er gemeldet, dass wohl ein Irrtum
vorlag.«
Alle sahen einander an.
Plötzlich lag Anspannung in der Luft. Und Angst.
„Al so, zuallererst laufen wir den Weg zur Whitestone-Farm ab«, bestimmte
Leslie, „vielleicht ist sie gestürzt, oder ihr ist schwindlig geworden ... Sie ist so alt!« Sie
blickte die beiden Männer an. „Keiner vo n euch beiden ist auf die
Idee gekommen, eine alte Frau mitten in der Nacht zu begleiten? Oder
ihr den Plan, noch ein Stück zu laufen, auszureden?« »Man kann Fiona nichts ausreden«, brummte
Chad, womit er allerdings recht hatte.
Colin
strich sich über die Haare. Er blickte schuldbewusst drein. »Stimmt«, sagte er, »es hätte
selbstverständlich sein sollen, sie zu begleiten. Es war ... spät, und ich glaube ... ich
fühlte mich nicht verantwortlich. Ich war außerdem ärgerlich ... alle waren irgendwie böse auf sie ... « Er verstummte
hilflos.
Leslie bohrte nicht
weiter nach. Er hatte ja recht. Jeder war zornig auf Fiona gewesen. Sie selbst schließlich am
meisten. So zornig, dass sie ohne ihre Großmutter den Heimweg angetreten hatte, anstatt auf sie
zu warten.
»Gwen, versuch doch
bitte noch einmal, Dave zu erreichen. Vielleicht weiß er ja etwas. Wenn er weiterhin nicht auf
deine Anrufe reagiert, werde ich ihn aufsuchen.« Leslie wandte sich zum Gehen. »Kommt jemand
mit und hilft, die Straße abzusuchen?«
Colin und Jennifer
schlossen sich ihr an, und Jennifer nahm auch die Hunde mit. Die schmale Straße lag still im
Sonnenlicht. Auf beiden Seiten wurde sie von mannshohen Hecken gesäumt, die in allen Farben des
Herbstes leuchteten. Vereinzelt hingen sogar noch dicke, schwarze Brombeeren an den Zweigen.
Ein friedlicher, fast spätsommerlich anmutender Sonntag im Oktober ... In der Ferne glitzerte
blau das Meer.
Ein Stück vor ihnen
tauchte das große Gatter auf, das den Zugang zu der benachbarten Farm verschloss. Ein Fußpfad
führte, entlang weitläufiger Schafweiden, auf das Gelände. Die Landstraße machte an dieser
Stelle eine scharfe Kurve nach rechts und führte dann in sanften Bogen bergab, tauchte ein in
ein Waldstück, das aus hohen, immer noch dicht belaubten Bäumen, aus Büschen und Farnen
bestand. Die Sonne drang hier nur stellenweise hin, das Licht war dämmrig und alles in ein
weiches Grün getaucht. Eine schmale Brücke mit steinernem Geländer führte über eine tiefe,
bewaldete Schlucht, auf deren Grund in diesem sehr trockenen Herbst das Wasser nur als flaches
Rinnsal floss. Dahinter schraubte sich die Straße langsam wieder empor.
Bei Nacht musste es
hier stockdunkel sein. Allerdings war es praktisch unmöglich, sich zu verlaufen, weil man
nirgendwo die Straße verlassen konnte. Und die Schlucht war durch die Mauern begrenzt. Ein
Mensch in volltrunkenem Zustand hätte vielleicht dennoch abstürzen können, aber Fiona war mit
Sicherheit, wie stets, stocknüchtern gewesen.
Zunehmend beschlich
Leslie tiefe Furcht. Etwas stimmte hier ganz und gar nicht.
Sie liefen bis zur
Whitestone-Farm und noch ein Stück weiter sogar, spähten in die Sträucher am Straßenrand und
ließen den Blick über die Weideflächen schweifen, die sich dahinter anschlossen. Wotan und Cal
sprangen fröhlich voraus und wieder zurück und schienen nicht das Geringste zu wittern, das in
irgendeiner Weise ungewöhnlich war.
„Könnten die beiden
eine Spur aufnehmen?«, fragte Leslie. „Wenn man ihnen ein Kleidungsstück von Fiona hinhält, zum
Beispiel?«
Jennifer schüttelte
den Kopf. „Dazu muss ein Hund ausgebildet sein. Die beiden würden nicht wissen, was sie tun
sollen.«
Frustriert machten
sie sich auf den Heimweg. Was immer mit Fiona geschehen war: Auf dem Weg, den sie hatte
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