Das andere Kind
Tag hier im Zimmer zu sitzen, finden Sie nicht?« »Sind Sie gestern gleich schlafen
gegangen? Ich meine, nach allem, was war, müssen Sie ziemlich aufgewühlt gewesen sein.« »Nein.
Ich war nicht allzu aufgewühlt. Und ja, ich bin gleich schlafen gegangen.« Er brachte das
kochende Wasser, füllte es in die Tassen. »Dr. Cramer, was soll das? Sie fragen mich ständig,
was ich gestern Abend getan habe. Warum? Was ist mit Ihrer Großmutter los? Und was habe ich mit
ihr zu tun?« »Ich bin gestern ohne sie in ihre Wohnung zurückgefahren. Ich war wütend auf sie
und hatte keine Lust mehr, mit ihr zu reden. Sie blieb noch eine ganze Weile auf der Beckett-
Farm und ließ sich dann von Colin Brankley ein Taxi bestellen, und zwar zu einer Farm, die gute
fünfzehn Minuten Fußmarsch von der Beckett-Farm entfernt liegt. Sie stand sehr unter Strom, wie
Colin berichtete, und wollte unbedingt noch laufen. Der Taxifahrer
traf am vereinbar ten Treffpunkt aber niemanden an, kurvte noch eine
Weile herum und fuhr schließlich nach Scarborough zurück. Fiona ist weder in ihrer Wohnung
aufgetaucht noch zur Beckett-Farm zurückgekehrt. Sie ist einfach verschwunden. Und ich mache
mir ziemliche Sorgen.«
»Das verstehe ich. Aber
weshalb dachten Sie, dass ich wissen könnte, wo sie ist?«
Leslie nahm einen Schluck
Kaffee und verbrannte sich die Zunge. Das Gebräu schmeckte scheußlich. Entgegen ihrer
Gewohnheit griff sie zum Zucker.
»Ich hoffte einfach, dass
Sie etwas wissen. Es hätte ja sein können, dass Fiona Sie aufsucht, gerade weil sie sich Ihnen
gegenüber so völlig danebenbenommen hatte. Es war einfach ... ein Versuch.«
»Leider habe ich wirklich
keine Ahnung, wo sie stecken könnte«, sagte Dave.
Und weshalb sollte er mich
belügen, dachte Leslie. Sie fühlte sich müde und angstvoll. Dennoch weigerte sich etwas in ihr,
die Möglichkeit, ihrer Großmutter könnte etwas Ernsthaftes zugestoßen sein, wirklich in
Betracht zu ziehen. Fiona war nicht der Typ, dem etwas zustieß. Im nächsten Moment allerdings
fragte sie sich, ob es das überhaupt gab: einen Menschen, dem nichts zustieß. War es nicht das
Fatale und Unheimliche, dass alles jeden treffen konnte, immer und überall?
Sie sah sich in dem Zimmer
um und überlegte, wie ein erwachsener Mann so hausen konnte. Ein Student, ja, aber ein Mann in
den Vierzigern? Was war schiefgelaufen in Dave Tanners Leben? Er hatte Ruhelosigkeit in den
Augen, vielleicht sogar einen Anflug von Verzweiflung. Er hasste dieses Zimmer, und dazu musste
nicht im Widerspruch stehen, dass er nichts tat, es sich schöner zu gestalten, dass er es, im
Gegenteil, vollkommen verwahrlosen ließ. Das Zimmer verkörperte seine Wut gegen sein Leben -
gegen das ärmliche, verwohnte Reihenhaus, die zudringliche Wirtin, gegen das Auto, das ständig
seinen Dienst versagte, wahrscheinlich auch gegen seinen Job, der ihn nicht einmal ansatzweise
befriedigen oder ausfüllen konnte. Er schien ihr intelligent und gebildet -warum hatte er es
nicht weiter gebracht als bis in dieses enge Loch, unter einem Dach mit dieser grässlichen
alten Frau?
„Ich glaube, es war gegen
halb neun Uhr gestern Abend, als ich die Beckett-Farm verließ«, sagte Dave, „und ich schätze,
dass ich gegen neun hier war. Ich habe noch etwas Wein getrunken und mich dann ins Bett gelegt.
Fiona Barnes habe ich weder gesehen noch gesprochen. Das war's.«
„Sie müssen ganz schön
wütend gewesen sein.«
„Ich war wütend, weil sie
mich vor aller Augen und Ohren angegriffen hat. Weil sie den Abend zerstört hat. Ihre Ansichten
über mich waren mir allerdings nicht neu, auch wenn sie sie noch nie vorher so direkt zum
Ausdruck gebracht hat. Ich habe ihr Misstrauen immer gespürt.«
„Sie sorgt sich um
Gwen.«
„Mit welchem
Recht?«
„Was meinen Sie?«, fragte
Leslie überrascht.
Er rührte so heftig in
seiner Tasse, dass der Kaffee über den Rand und auf den Tisch schwappte. „Was ich sage. Mit
welchem Recht? Sie ist nicht Gwens Mutter oder Großmutter. Sie ist nicht verwandt. Weshalb
fühlt sie sich berufen, sich derart massiv in Gwens Leben einzumischen?«
„Sie ist seit Ewigkeiten
mit Gwens Vater befreundet. Gwen hängt sehr an ihr, hat in ihr immer einen Mutterersatz
gesehen. Daraus ergibt sich für Fiona fast zwangsläufig das Gefühl von Verantwortung. Und sie
ist misstrauisch.«
»Weswegen?«
Leslie setzte ihre Worte
sehr vorsichtig. »Sie wissen vermutlich, dass Sie ein
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