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Das andere Kind

Titel: Das andere Kind Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Das andere Kind
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Tanner.«
    »Ja.
    Damit Sie etwas begreifen.«
    Sie war wütend, aber sie wusste nicht recht, worauf sie ihre Wut richten sollte. Sie fühlte
    sich von ihm zurechtgewiesen und wie ein Schulmädchen behandelt, aber zu gleich war ihr bewusst, dass er recht hatte. Fiona und
    sie mischten sich in etwas ein, das sie nichts anging. Sie behandelten Gwen wie ein kleines
    Kind und Dave wie einen Heiratsschwindler. Bislang war daraus nichts als Konfusion und Unglück
    entstanden: Dave hatte seine eigene Verlabungsfeier frühzeitig verlassen, Gwen saß daheim und
    weinte sich die Augen aus, und Fiona war wie vom Erdboden verschluckt. Insgesamt fiel die
    Bilanz dieses Wochenendes ziemlich niederschmetternd aus.
    Der Gedanke an Fiona brachte Leslie zum eigentlich drängenden Problem zurück. Sie leerte rasch
    ihre Kaffeetasse, auf deren Grund sich ein Berg Zucker, gemischt mit unaufgelöstem Pulver,
    abgesetzt hatte, und stand auf
    »Ich wollte Ihnen nicht zu nahe treten«, sagte sie, »und danke für den Kaffee. Aber nun muss
    ich weiter nach meiner Großmutter suchen. Ich fürchte, wenn sie bis heute Abend nicht
    auftaucht, werde ich die Polizei verständigen.«
    Auch er erhob sich. »Kein schlechter Gedanke«, meinte er, »aber vielleicht wartet sie ja daheim
    bereits auf Sie.«
    Leslie bezweifelte das. Sie tastete sich die dunkle, steile Treppe hinunter. Die Wirtin stand
    unten vor einem Spiegel im Flur und wischte mit einem Lappen an dessen Rahmen herum. Es war
    klar erkennbar, dass sie versucht hatte, jedes Wort von oben zu verstehen.
    Wie hält Dave das nur aus, dachte Leslie, und gleich darauf kannte sie die Antwort: Er hält es
    ja nicht aus. Er ist ein zutiefst unglücklicher Mensch.
    Dave begleitete sie zu ihrem Auto. Beim Einsteigen sagte sie zu ihm: »Tun Sie mir doch den
    Gefallen und rufen Sie Gwen an. Sie kann überhaupt nichts dafür, was gestern passiert ist. Das
    soll keine weitere Einmischung sein. Nur die Bitte einer Freundin.«
    »Mal sehen«, sagte er unbestimmt.
    Im Davonfahren blickte sie in den Rückspiegel, aber er sah ihr nicht nach. Er kehrte sofort um
    und ging ins Haus zurück. Mit leisem Schauder überlegte Leslie, wie ein langer, stiller Sonntag
    in dem tristen Zimmer aussehen musste. Sie hätte mit Tanner nicht tauschen mögen.
    Fionas Wohnung war so leer wie am Morgen, und es gab auch keinen Hinweis, dass in der
    Zwischenzeit jemand hier gewesen war. Leslie verspürte brüllenden Hunger. Sie holte eine
    tiefgekühlte Frikadelle aus dem Gefrierfach im Kühlschrank und schob sie in die Mikrowelle.
    Dann rief sie auf der Beckett-Farm an, um sich nach Neuigkeiten zu erkundigen, aber Chad teilte
    ihr mit, dass er nichts weiter gehört habe.
    »Ich warte bis fünf Uhr«, sagte Leslie, »dann rufe ich die Polizei an.«
    »In Ordnung«, meinte Chad.
    Sie setzte sich mit ihrer Frikadelle an das Fenster im Wohnzimmer und blickte auf die
    sonnenüberflutete Bucht, den Strand, an dem es von Spaziergängern und wild spielenden Hunden
    wimmelte, den Hafen, die Burg darüber. Schon nach wenigen Bissen war ihr Magen wie zugeschnürt,
    obwohl sie wenige Minuten zuvor noch geglaubt hatte, sie werde jeden Moment ohnmächtig vor
    Hunger. Der Anflug einer düsteren Vorahnung war fast übermächtig, und sie konnte nur hoffen,
    dass dies ihren angeschlagenen Nerven entsprang und sich als unbegründet erwies.
    Vielleicht hatte sich Fiona, trotzig und wütend, ein Hotelzimmer genommen und ließ sie alle ein
    wenig schmoren.
    Würde sie mir das antun?, fragte sich Leslie.
    Sie kannte die Antwort. Weil sie die Frau, die sie großgezogen hatte, nur zu gut kannte. Fiona
    scherte sich nicht sehr um andere, nicht einmal um ihre Enkelin.
    Wenn ihr danach war unterzutauchen, würde sie sich keinen Gedanken darum machen, wie das auf
    ihre einzige Angehörige und auf ihre Freunde wirkte.
    Die Schlucht am Rand einer Schafweide draußen auf den Wiesen von Staintondale war in gleißendes
    Licht getaucht. Die eilig aufgerichteten Scheinwerfer beleuchteten die Szenerie mit grausamer,
    rücksichtsloser Deutlichkeit. Absperrbänder, Autos, Menschen. Irgendwo weiter hinten in der
    Dunkelheit blökten Schafe.
    Detective Inspector Valerie Almond war von einer Familienfeier weggerufen worden und hasste
    ihren Beruf in diesem Moment. Aus der warmen, heiteren Atmosphäre eines Wohnzimmers voller
    Menschen, die sie liebte und die sie viel zu selten sah, war sie ohne jeden Übergang auf dieser
    dunklen Schafweide gelandet. Ihr Mitarbeiter hatte

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