Das andere Kind
sie abgeholt, da sie selbst ihren Wagen
nicht dabeigehabt hatte. Sie trug ein Kostüm und Schuhe mit Bleistiftabsätzen und war damit
keineswegs geeignet gekleidet, um einen Grasstreifen entlang zu einem Steilhang zu stapfen.
Zudem war es dunkel, und vom Meer her blies ein unangenehm kalter Wind ins Land. »Wo ist denn
die Frau, die sie gefunden hat?«, fragte sie. Sergeant Reek, der sie begleitete, führte eine
Gestalt aus dem Schatten neben einem der parkenden Wagen ins Scheinwerferlicht. Eine junge
Frau, keine fünfundzwanzig, schätzte Valerie. Sie trug Jeans, Gummistiefel und einen dicken
Pullover. Sie sah erschreckend blass und vollkommen geschockt aus.
»Sie sind ... ?«, fragte Valerie.
»Paula Foster, Inspector. Ich wohne dort hinten auf der Trevor-Farm.« Sie machte eine
unbestimmte Handbewegung irgendwo in die Nacht hinein. »Ich arbeite dort für drei Monate als
Praktikantin. Ich studiere Landwirtschaft.«
»Um wie viel Uhr kamen Sie hierher?«, fragte Valerie. »Und warum?« »Gegen neun Uhr. Ich wollte
nach einem der Schafe sehen«, antwortete Paula.
»Was ist mit dem Schaf?«
»Es hat eine eitrige Verletzung am Bein. Seit zwei Tagen. Ich besprühe die Wunde morgens und
abends mit einem Desinfektionsspray. Normalerweise bin ich gegen sechs Uhr hier.«
»Weshalb heute erst um neun?« Paula senkte den Kopf. »Mein Freund war da«, sagte sie leise,
»und wir haben ... irgendwie die Zeit vergessen.« Valerie fand nicht, dass das etwas war, wofür
man sich schämen musste.
»Verstehe. Und woher wussten Sie, dass das Schaf hier sein würde? Die Tiere verteilen sich doch
auf einem riesigen Weidegelände.«
»Ja. Aber dort drüben ist ein Schuppen.« Wieder wies sie in die undurchdringliche Dunkelheit
jenseits der Absperrungen. »Gar nicht weit, aber man kann ihn jetzt nicht sehen. Wir lassen das
verletzte Schaf im Moment da nicht raus. Heute aber ... «
»Ja?«
Paula Foster war das personifizierte schlechte Gewissen.
»Als ich hinkam, stand die Tür offen. Ich fürchte, ich habe sie heute früh nicht richtig
verschlossen. Ich war so aufgeregt und in Eile wegen meines Freundes ... und das Schaf war
weg.«
»Und da sind Sie auf die Suche gegangen?«
»Ja. Ich hatte eine Taschenlampe dabei und habe in immer größeren Kreisen um den Schuppen herum
alles abgeleuchtet. Und dann habe ich es gehört. Aus der Schlucht da unten.«
Sie hielt inne. Ihre Lippen zitterten leicht. »Ich hörte es leise blöken«, fuhr sie fort, »und
wusste, dass es offenbar den Hang hinuntergerutscht ist und nicht mehr von allein nach oben
kommt.«
»Also sind Sie in die Schlucht hinabgestiegen«, folgerte Valerie.
»Ja. Der Hang ist zwar recht steil, aber er besteht nur aus Erde und Laub. Es war nicht so
schwer, nach unten zu kommen.« »Und dann sahen Sie die Tote.« Paulas Blässe vertiefte sich. Sie
hatte Mühe weiterzusprechen. »Ich bin fast auf sie draufgerutscht. Ich ... bin zu Tode
erschrocken, Inspector. Eine tote Frau ... direkt zu meinen Füßen ... Ich war fassungslos ... «
Sie griff sich mit beiden Händen an den Kopf. Ganz offensichtlich war sie das noch immer:
fassungslos.
Valerie betrachtete sie mitfühlend. Eine schreckliche Situation: ein dunkler Herbstabend, eine
verlassene Gegend, eine schrecklich zugerichtete Leiche am Grund einer Schlucht. Und eine junge
Frau, die nur ein verirrtes Schaf vorzufinden geglaubt hatte. Sie versuchte, möglichst sachlich
weiterzufragen, um ihrem Gegenüber die Möglichkeit zu geben, sich etwas zu
beruhigen.
»Sie haben dann gleich die Polizei angerufen?«
»Ich bin erst einmal, so schnell ich konnte, wieder nach oben geklettert«, sagte Paula. »Es
kann sein, ich ... ich habe geschrien dabei, ich weiß es nicht genau. Oben wollte ich dann
anrufen, aber zunächst hatte ich kein Netz. Das ist schlimm in der Gegend hier. Ich bin in
Richtung Landstraße gelaufen, und dort irgendwo bekam ich dann eine wacklige
Verbindung.«
»Dann haben Sie auf uns gewartet? Oder sind Sie noch einmal hinunter, um das Tier zu
suchen?«
»Ich bin wieder hinunter«, sagte Paula. »Aber das Schaf war nicht zu finden. Ich fürchte, es
ist weiter in die Schlucht hineingelaufen. Wahrscheinlich habe ich tatsächlich geschrieen, und
es hat Angst bekommen. Und jetzt die Lichter hier, die vielen Menschen ... da kommt es
natürlich erst recht nicht zurück. Ich muss es unbedingt suchen.«
»Verstehe«, sagte Valerie. Sie wandte sich an Sergeant Reek. »Reek,
Weitere Kostenlose Bücher