Das andere Kind
trat heran. Er hielt eine Handtasche in
seinen plastikgeschützten Händen.
»Die war am Steilhang an einem Baum hängen geblieben«, sagte er. »Mit hoher Wahrscheinlichkeit
ist das die Tasche des Opfers. Sie enthält einen Pass, dem nach es sich bei der Besitzerin um
eine Fiona Barnes, Mädchenname: Swales, geboren am 29. Juli 1929 in London, handelt. Wohnhaft
in Scarborough. Das Foto weist eine hohe Ähnlichkeit mit unserem Opfer hier auf.«
»Fiona Barnes«, wiederholte Valerie, »neunundsiebzig Jahre alt.« Sie dachte an die junge Amy
Mills. Gab es einen Zusammenhang?
»Und noch etwas«, sagte der junge Beamte eifrig. Er war neu, er versuchte sich durch Leistung
zu profilieren. »Ich habe auf dem Revier in Scarborough angerufen. Um 17.20 Uhr heute
Nachmittag ist dort eine Fiona Barnes als vermisst gemeldet worden. Von ihrer
Enkelin.«
»Gut gemacht«, lobte Valerie. Sie schlang beide Arme um ihren frierenden Körper. Der Wind blies
immer kälter, er fegte über die baumlose Hochfläche und sauste dann in die Schlucht
hinab.
Unmittelbar nach ihrem Auffinden hatte die Leiche bereits einen Namen. Das war schneller und
problemloser gegangen, als es sonst häufig der Fall war. Oft dauerte es Wochen, ehe sie die
Identität eines Toten kannten. Aber Valerie hütete sich vor unangebrachtem Optimismus. Auch Amy
Mills war schnell identifiziert worden. Bis heute hatte dieser Umstand sie keinen Schritt
weitergebracht.
»Dann möchte ich jetzt sofort zu der Enkelin dieser Frau«, sagte sie.
Der junge Polizist strahlte, als ihm klar wurde, dass er die Chefin würde fahren dürfen. Denn
Sergeant Reek stapfte irgendwo hier durch die Nacht, auf der Suche nach einem verletzten
Schaf.
Manchmal hatte man auch einfach etwas Glück.
MONTAG, 13. OKTOBER
»Bist du wach?«, wisperte Jennifer. Sie steckte
den Kopf durch die Tür in Gwens Zimmer. „Ich habe Licht gesehen ... «
Gwen lag nicht im Bett. Sie hatte sich nicht
einmal ausgezogen. Sie saß in einem Sessel am Fenster, starrte in die Dunkelheit, die noch
nachtschwarz über dem Land hing. Es war halb fünf am Morgen. Noch kündigte nichts den bald
beginnenden Tag an.
Cal und Wotan drängten an Jennifer vorbei, liefen
zu Gwen hin und leckten ihr die Hände. Gedankenverloren kraulte Gwen die großen
Köpfe.
„Komm ruhig herein«, sagte sie, „ich habe keinen
Moment geschlafen heute Nacht.« »Ich auch nicht«, erwiderte Jennifer, kam ins Zimmer und
schloss leise und nachdrücklich die Tür.
Sie standen unter Schock. Alle auf der Farm. Seit
Leslies Anruf am späten gestrigen Abend. Nachdem eine Beamtin der Polizei bei ihr gewesen
war.
Chad war wortlos nach oben in sein Schlafzimmer
verschwunden, hatte die Tür hinter sich verriegelt.
Colin war mit großen Schritten zwischen
Wohnzimmer und Küche hin- und hergelaufen. »Das gibt es nicht«, hatte er ein ums andere Mal
gesagt, »das kann doch nicht wahr sein!« Gwen und Jennifer hatten wie erstarrt nebeneinander
auf dem Sofa gesessen, fassungslos, sprachlos.
Fiona war tot. Grausam ermordet. Am Rand einer
Schafweide, nicht einmal allzu weit von der Beckett-Farm entfernt, aber doch völlig abseits des
Weges, den Fiona am Samstagabend hatte gehen wollen. Niemand hatte eine Ahnung, wie sie dorthin
geraten war.
Weit nach Mitternacht waren sie in ihre
Schlafzimmer gegangen. Aber offenbar hatte niemand ein Auge zugetan.
»Ich wollte etwas mit dir besprechen«, sagte
Jennifer. Sie wirkte angespannt, aber das fand Gwen nicht verwunderlich. Sie hatte selbst das
Gefühl, von Kopf bis Fuß unter Strom zu stehen. Ihre Lider waren schwer vor Müdigkeit, aber
zugleich war sie hellwach. Sie schwitzte und fröstelte gleichzeitig. Es war wie bei einer
Grippe. Nur dass es schlimmer war, viel schlimmer.
»Ja?«
Jennifer setzte sich auf das Bett. »Ich habe
nachgedacht«, begann sie vorsichtig. »Es wird dir vielleicht seltsam vorkommen, dass ich mir
diese Gedanken mache, gerade jetzt, aber ... ich weiß, du fühlst dich sehr elend ...
«
Gwen meinte Watte im Mund zu
haben. Es fiel ihr schwer zu sprechen. »Ich kann es nicht glauben«, sagte sie mühsam, »es ist
einfach ... wie ein böser Traum. Fiona war immer ... unverletzlich. Stark. Sie war ... « Sie
suchte nach den richtigen Worten, um zu beschreiben, was ihr Fiona gewesen war, aber die
eigentliche Formulierung wollte ihr nicht einfallen. »Sie war imm er
da«, sagte sie schließlich, »sie war immer da, und man hatte
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