Das andere Kind
Foto.
»Ich kenne sie nicht
persönlich, aber aus der Zeitung weiß ich, wer sie ist: Amy Mills. Das Mädchen, das im Juli
hier ermordet wurde.«
»Fiona Barnes wurde gestern
Abend ermordet in Staintondale aufgefunden«, sagte Valerie.
Er war so entgeistert, dass er
spürte, wie er blass wurde. »Was?«
»Sie wurde mit einem Stein
erschlagen. Manches erinnert an die Ermordung von Amy Mills.« Er hatte auf einem Stuhl
gesessen, nun stand er auf Er strich sich mit der Hand langsam über das Gesicht. »Großer
Gott«, sagte er.
Auf Valerie wirkte er
aufrichtig erschüttert.
Doch im Lauf ihrer Berufsjahre
hatte sie zu viel erlebt und gesehen, um noch irgendetwas für bare Münze zu nehmen. Dave Tanner
mochte tatsächlich völlig überrascht und geschockt sein, genauso gut konnte es sein, dass er
eine gelungene Show abzog. Valerie würde vorläufig unbeeindruckt bleiben.
Sie war gemeinsam mit einem
ziemlich übernächtigten Sergeant Reek - der die halbe Nacht hindurch das verletzte Schaf
gesucht, es am Ende aber gefunden und aus der Schlucht wieder nach oben geschleppt hatte -bei
Daves Wirtin aufgetaucht und hatte verlangt, Mr. Tanner zu sprechen. Der Name Tanner hatte sie
am Vorabend, als sie Leslie Cramer die traurige Nachricht vom Tod ihrer Großmutter überbracht
und ein vorsichtiges erstes Gespräch mit ihr geführt hatte, elektrisiert. Tanner, der wie Amy
Mills' Arbeitgeberin Mrs. Gardner Sprachkurse an der Friarage School abhielt, wurde nun bereits
zum zweiten Mal im Zusammenhang mit einem Mordfall erwähnt.
Er könnte die Schnittstelle
sein. Zumindest stellte er im Augenblick die einzige Verbindung zwischen den so
unterschiedlichen Frauen dar.
Dave Tanner hatte noch im Bett
gelegen, als die Wirtin an seine Tür klopfte und Polizeibesuch meldete. Sie hatte geschnauft
vor Aufregung. Tanner hatte sich gewundert, war aber sofort gesprächsbereit gewesen. Er hatte
sich eine Jeans und einen Pullover übergezogen und die Beamten in seinem Zimmer empfangen. Er
bot einen Kaffee an, doch beide lehnten ab. Valerie hatte ihn aufmerksam gemustert. Seine
verquollenen Augen verrieten ihr, dass er zu viel trank, aber das machte ihn natürlich nicht
mehr oder weniger verdächtig. Valerie ärgerte sich, dass sie ihn nicht gleich nach dem Gespräch
mit Mrs. Gardner unter die Lupe genommen hatte, aber sie hatte sich zunächst um Mrs. Gardners
Exmann gekümmert. Er hatte sich als harmloser Zeitgenosse entpuppt, der im Übrigen seinen
Aufenthaltsort während der Tatzeit des Mordes an Amy Mills hatte nachweisen können: Er hatte
Urlaub auf Teneriffa gemacht. Das von ihm benannte Hotel bestätigte seinen
Aufenthalt.
»Wir haben mit Dr. Leslie
Cramer gesprochen«, sagte Valerie nun, »der Enkelin von Fiona Barnes. Laut ihrer Aussage hatten
Sie am vergangenen Samstagabend einen heftigen Streit mit Mrs. Barnes.«(
»Eigentlich war es kein Streit.
Mrs. Barnes attackierte mich - über den Inhalt ihrer Angriffe wissen Sie vermutlich Bescheid.
Schließlich hatte ich die Schnauze voll und ging. Das war es schon.«
»Dr. Cramer sagte, Sie seien
nach eigenen Angaben direkt hierher gefahren und zu Bett gegangen.«
»So ist es.«
»Zeugen?«
»Nein.«
»Ihre Wirtin?« »Saß vor dem Fernseher. Sie hat mein Kommen nicht bemerkt.« »Woher wissen Sie
das?« »Weil sie immer herausschießt und mich abfängt, wenn sie es bemerkt.«
»Wo
waren Sie am I6.Juli dieses Jahres? Abends?« »Ich ... hatte ein Date.« »Das schütteln Sie so
aus dem Handgelenk? Ich wüsste spontan nicht zu sagen, was ich an einem bestimmten Datum vor
fast drei Monaten getan habe.« Er musterte sie feindselig. Er begreift gerade, dass seine Lage
etwas prekär ist, dachte Valerie. »Am 16. Juli habe ich meine Verlobte kennengelernt. Deshalb
sprach ich von einem Date. Und deshalb
habe ich auch das Datum so genau im Kopf.« Valerie blickte in ihre Unterlagen. »Ihre Verlobte -
Miss Gwendolyn Beckett, richtig?« »Exakt.« »Wo lernten Sie Ihre Verlobte
kennen?«
»In der Friarage
School. Ich unterrichtete an jenem Tag nicht, aber ich war hinübergegangen, um Unterlagen
abzuholen, die ich dort vergessen hatte. Gwen Beckett hatte einen Kurs besucht. Es regnete in
Strömen, als sie nach Hause wollte. Ich bot ihr an, sie zu fahren. Das tat ich dann
auch.«
»Verstehe. Um wie
viel Uhr war das etwa?«
„Wir fuhren gegen
sechs Uhr los. Ich war etwa um halb neun wieder daheim.«
„Das war
früh.«
„Wir waren
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