Das andere Kind
ihn je ausfindig machen zu
können.
Hier besteht wiederum eine
deutliche Ähnlichkeit zum Fall Amy Mills, dachte Valerie und stieg ins Auto, auch dort ist der
Täter nicht bewaffnet gewesen. Er benutzte die Mauer dazu, um sein Opfer zu töten. Entweder er
kannte den Ort sehr genau, oder er hat sich einfach darauf verlassen, dass ihm im geeigneten
Moment schon etwas einfallen würde. Beide Fälle scheinen zumindest in dieser Hinsicht wenig
Planung zu beinhalten. Allerdings könnten die Orte, an denen die Opfer abgefangen wurden, sehr
genau ausgesucht und mit Bedacht gewählt gewesen sein. Bei Mills trug der Täter überdies
Handschuhe. Mills ging regelmäßig mittwochnachts durch die Esplanade Gardens. Dafür, dass die
Bauzäune ihren üblichen Weg versperrt hatten, gab es noch immer keine Erklärung, sie konnten
also tatsächlich Teil des Mordplans gewesen sein.
Dass Fiona Barnes an jenem späten
Abend die einsame Straße entlangkommen würde, war hingegen unmöglich vorhersehbar gewesen. Bis
sie sich spontan entschloss, dem Taxi zu Fuß entgegenzugehen, hatte sie es ja selbst nicht
gewusst. Ohnehin wäre sie normalerweise mit ihrer Enkelin zusammen im Auto nach Hause
gefahren.
Normalerweise ...
Valerie fuhr langsam vom Hof der
Polizeidienststelle. Der Nebel war so dicht geworden, dass die Sichtweite nur ein paar Fuß
betrug. Sie schaltete die Scheinwerfer an und dachte mit Bedauern an den gestrigen sonnigen
Tag. Da hatte es Spaß gemacht aufzustehen, sich in die bevorstehende Arbeit zu stürzen. Heute
schien sich die ganze Welt schwerfällig und bleiern zu bewegen, wie gefangen in diesem Kokon,
der Geräusche schluckte und Bilder verschwimmen ließ.
Ein beschissener Tag, dachte
Valerie, während sie die Straße entlangkroch.
Alle Umstände um den Mord an
Fiona Barnes legten die Schlussfolgerung nahe, dass es sich bei ihrem Mörder um eine Person aus
dem Kreis derer handeln musste, die an der später so nachhaltig gestörten Verlobungsfeier
teilgenommen hatten. Das Problem für Valerie war, dass sie das Motiv nicht recht sah. Im Grunde
hatte nur Tanner - und vielleicht auch Gwen Beckett - eines gehabt, und es schien ihr nicht
ausreichend für einen derart brutal ausgeführten Mord.
Sie hatte am Vortag lange mit dem
Gerichtsmediziner gesprochen. »Mann oder Frau? Was glauben Sie«
Der Pathologe
hatte gezögert. »Schwer zu sagen. Der Täter scheint mir von größter Wut getrieben worden zu
sein. Er - oder sie - geriet mehr und mehr in einen Gewalt rausch. Für den Schlag, an dem Fiona Barnes später starb, brauchte man
Kraft.«
»Mehr Kraft, als man für
gewöhnlich bei Frauen voraussetzt?«
»Nicht unbedingt. Hier
steckte wirklich Hass dahinter. Hass verdreifacht Kräfte. Nein, ich kann eine Frau als Täterin
nicht ausschließen. Und zweifellos war der Täter Rechtshänder.«
Toll, dachte Valerie
sarkastisch, das schränkt natürlich den Kreis der potenziellen Täter extrem ein. Rechtshänder,
wie mindestens drei Viertel aller Menschen, und sowohl Mann als auch Frau wären möglich. Bringt
mich enorm weiter.
Sie merkte, wie sich ein
vertrauter Druck auf ihre Brust legte. Sie wusste, dass sie bald eine Spur, am besten aber eine
Lösung des Falls oder beider Fälle - präsentieren musste, sonst würden sich höhere Stellen
einschalten. Dann war sie weg vom Fenster, abgezogen von der Ermittlung und komplett
gescheitert, was die Aufklärung dieser Verbrechen anging. Wenn sich der Verdacht erhärtete, es
mit einem Serienmörder zu tun zu haben, dem eine relativ junge Beamtin unfähig war, auf die
Spur zu kommen, würde man ihr jemanden von Scotland Yard vor die Nase setzen. Sie brauchte
dringend einen Anhaltspunkt.
Jennifer Brankley. Die Frau war ihr vom ersten Moment an seltsam vorgekommen. Und nicht
nur deshalb, weil sie auf dieser trostlosen Farm Ferien machte und ständig die beiden riesigen
Hunde mit sich führte. Es war noch etwas anderes gewesen, und nun, da sie die alten
Presseberichte gelesen hatte, wusste Valerie auch, was es war: Jennifer Brankley war eine tief
verbitterte Frau. Sie fühlte sich vom Leben, vom Schicksal, von den
Menschen schlecht und un gerecht behandelt. Ihre Entlassung aus dem
Schuldienst hatte sie nie verwunden, nie verarbeitet. Die Geschichte fraß an ihr, Jahre später
noch.
Wie sah ihr
Psychogramm aus?
Sie hat ein
Helfersyndrom, dachte Valerie, während sie sich in eine wegen des Nebels kaum überschaubare
Kreuzung
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