Das andere Kind
Trotzdem hatte er sie nie gern da gehabt. Gwen gegenüber
stellte sein Zimmer eine Höhle dar, einen Rückzugsort. Er brauchte einen Freiraum vor ihr,
einen Platz, der eine Art Tabuzone für sie bedeutete.
Plötzlich dachte er, dass es ihm vielleicht sogar lieber gewesen wäre, DI Almond erneut empfangen zu müssen.
Und
nicht seine Verlobte.
Falls
sie verlobt waren. Die entsprechende Feier hatte schließlich sehr abrupt geendet. Vielleicht
war sie eher seine Fast-Verlobte. Und auch das fühlte sich ein wenig bedrohlich an.
»Ist
schon okay«, sagte er beruhigend, als ihm aufging, dass Gwen aufgehört hatte zu reden und ihn
erwartungsvoll ansah. »Wirklich, Gwen, ich trage dir nichts nach. Du kannst schließlich nichts
für Fionas Gerede.«
»Ehrlich
gesagt, ich bedaure es nicht allzu sehr, dass sie tot ist«, gestand Gwen plötzlich in einer für
sie ungewohnten Heftigkeit. »Ich weiß, es ist eine Sünde, und man darf so nicht denken, aber
sie ist diesmal wirklich zu weit gegangen. Sie hat es immer gut mit mir gemeint, aber manchmal
... Ich meine, man kann sich eben nicht in alles einmischen, oder? Nur weil mein Vater und sie
früher ... «
Sie
vollendete den Satz nicht.
Dave
ahnte, was sie hatte sagen wollen. Ohnehin hatte er sich Ähnliches auch selbst schon gedacht.
»Die beiden hatten mal etwas miteinander, stimmt's?«, fragte er. »Ich glaube, das dürfte
niemanden verwundern. Man spürt es irgendwie.«
»Wenn
es nur das wäre«, sagte Gwen. Ihm entging nicht die Verstörtheit, die in ihren Augen zu lesen
war. »Mein Vater und Fiona waren ... sie haben ... «
»Was
denn?«, fragte Dave, als sie stockte. »Es ist schon so lange her«, meinte Gwen leise.
»Vielleicht spielen alle diese Dinge keine Rolle mehr.«
Für
gewöhnlich hätte es ihn kaum interessiert, was alles sich im Leben von Chad Beckett und Fiona
Barnes - gegen die er gleichermaßen eine herzliche Abneigung hegte ereignet hatte, aber
angesichts der Lage der Dinge, vor allem angesichts seiner eigenen Lage, durfte er sich
Hinweise nicht entgehen lassen.
Daher
neigte er sich ein wenig vor. »Vielleicht spielt es doch noch eine Rolle, wer weiß. Immerhin
ist Fiona ziemlich brutal erschlagen worden.«
Sie sah ihn schockiert an, als habe er sie gerade mit einer Ungeheuerlichkeit konfrontiert und
nicht einen Umstand angesprochen, der in allen Straßen und Gassen von Scarborough und Umgebung
diskutiert wurde. »Aber ... das hat doch nichts mit ihr und m einem
Vater zu tun«, sagte sie, »oder mit ihrer beider Geschichte. Der
Mörder ist doch wahrscheinlich derselbe, der Amy Mills getötet hat, und da besteht ja kein
Zusammenhang.«
»Wie kommst du darauf? Dass es derselbe Mörder war, meine ich?« »So habe ich Detective
Inspector Almond verstanden«, antwortete Gwen verunsichert.
Auch ihm hatte Almond ein Foto von Amy Mills vor die Nase gehalten. Er wusste, dass es
Überlegungen in die Richtung gab, beide Fälle könnten miteinander zu tun haben, aber er hatte
den Eindruck gehabt, dass der Beamtin dafür zwar einige Anhaltspunkte vorlagen, jedoch nicht
der Anflug eines Beweises. »Kann sein«, sagte er, »aber genauso gut kann es auch ganz anders
sein. Gwen, wenn du irgendetwas weißt, das für die Polizei von Belang sein könnte, dann
solltest du es ... « »Dave, ich ... wir sollten vielleicht nicht mehr davon sprechen.« Sie
hatte Tränen in den Augen.
Warum fängst du dann überhaupt damit an, dachte er aggressiv, wenn du doch nicht darüber
sprechen willst.
»Du weißt schon, dass ich für die Polizei einer der Hauptverdächtigen bin, oder?«, sagte er.
Sie musste das gewusst haben, dennoch schien es sie zu erschrecken, es so unverblümt aus seinem
Mund zu hören. »Aber ... «, begann sie.
Er unterbrach sie. »Natürlich habe ich es nicht getan. Weder Amy Mills noch die alte Barnes
habe ich auf dem Gewissen. Amy Mills kannte ich überhaupt nicht, und Fiona Barnes ... Lieber
Gott, nur weil sie ein paar gehässige Reden gegen mich geschwungen hat, gehe ich doch nicht hin
und knalle ihr einen Stein auf den Kopf. Ich war ganz schön sauer am Samstagabend, aber
letztlich nehme ich eine fast achtzigjährige Frau doch gar nicht ernst genug, um sie wegen
ihrer abwegigen Unterstellungen gleich zu ermorden.«
»Sie werden nicht wirklich glauben, dass du es warst, und wenn du nichts getan hast, dann hast
du auch nichts zu befürchten«, sagte sie mit einem gläubigen Ton in der Stimme, der ihr
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