Das andere Kind
pirschte, denn was sie mit der Schülerin angestellt hatte, war nicht normal. Sie hätte
alles für das Mädchen tun können -mit den Eltern sprechen, einen Arzt, einen Psychologen zu
Rate ziehen, was auch immer. Aber sie wollte selbst helfen, spontan und direkt, und sie hatte
alles riskiert. Ihren Beruf, ihre Karriere. Die Geschichte hätte sie sogar ihre Ehe kosten
können. All der Dreck in den Zeitungen, daran wäre manche Beziehung zerbrochen. Colin Brankley
arbeitet bei einer Bank. Seine Vorgesetzten dürften nicht begeistert gewesen sein. Mit
Sicherheit hatte er Ärger wegen dieser Sache gehabt. Auch das hat Jennifer Brankley in Kauf
genommen. Als hätte sie nichts mehr gesehen außer der Not dieser Schülerin. Als sei alles
andere egal.
Bis heute glaubt sie,
dass sie schlecht behandelt wurde. Unfair. Dass ihr bitteres Unrecht geschehen ist. Man sieht
es ihr an. Sie wollte nur das Beste. Man hat es ihr um die Ohren geschlagen.
Was ist Gwen für
sie?
Sie haben eine starke
Beziehung, das ist spürbar. Jennifer ist ein wenig Mutter, große Schwester, Vertraute. Was
alles würde sie für Gwen tun?
Hat sie Gwens Glück,
ihre Zukunft mit Tanner, als so bedroht angesehen an jenem Abend, dass sie beschloss, die
Gefahrenquelle auszuschalten - die Gefahrenquelle Fiona Barnes?
Oder war nichts
dergleichen geplant gewesen? Hat je- mand - Jennifer? Dave? - Fiona gestellt, das Gespräch mit
ihr gesucht, eine Erklärung verlangt für ihre Einmischung? Ist die Situation außer Kontrolle
geraten, plötzlich in Streit und schließlich in Gewalt eskaliert? Valerie schlug mit der
flachen Hand auf das Lenkrad. Stochern im Nebel. Das war es. Hilfloses Rätseln, Herumtappen,
Überlegen, Verwerfen. Kein Anhaltspunkt, nichts.
Geh konzentriert
voran, ermahnte sie sich, spiel alles durch. Versuch nichts zu übersehen. Weshalb hatten sie
Tanner verschärft ins Visier genommen?
Nicht nur, weil er
ein - wenn auch nicht wirklich überzeugendes - Motiv gehabt hatte, gegen Fiona Barnes tätlich
zu werden. Sondern auch, weil er der Einzige war, bei dem sie eine Verbindung zu Amy Mills
herstellen konnte, wie mühsam konstruiert sie auch sein mochte. Gab es noch jemanden? Jemanden,
der Mills gekannt haben konnte?
Sie war jetzt auf die
Straße nach Staintondale abgebogen. Die Nebelbänke lagen wie riesige Kissen auf der Erde. Hohe,
nasse Gräser bogen sich über den feuchtglänzenden Asphalt. Valerie musste sich an ihnen
orientieren, um dem Straßenverlauf zu folgen.
Gwen Beckett. Sie
hatte diesen Kurs in der Friarage School besucht. Linda Gardner hatte dort unterrichtet. Amy
Mills hatte für Gardner gearbeitet.
Es war eine
Verbindung, immerhin. Wenn auch in der Konsequenz reichlich absurd. Gwen Beckett als
kaltblütige Doppelmörderin war eine Vorstellung, die sich kaum nachvollziehen ließ. Im Fall
Mills gab es für sie kein ersichtliches Motiv. Was Fiona anging, so hatte diese ihr die
Verlobungsfeier verpatzt. Reichte das?
Valeries Instinkt
sagte: Nein!
Amy Mills. Sie ließ sich Details aus dem Leben der er mordeten Frau durch den Kopf gehen und richtete sich plötzlich ruckartig
auf. Dass sie das nicht eher registriert hatte ... Amy Mills stammte aus Leeds. War dort zur
Schule gegangen. Jennifer Brankley hatte in Leeds unterrichtet ... Es war eine schwache
Möglichkeit, aber immerhin.
Über die
Freisprechanlage in ihrem Wagen rief sie sofort Sergeant Reek an.
»Reek, bitte
finden Sie heraus, welche Schule Amy Mills in Leeds besucht hat. Und in welcher Schule Jennifer
Brankley, ebenfalls in Leeds, unterrichtet hat. In beiden Fällen können es auch mehrere Schulen
gewesen sein. Überprüfen Sie bitte, ob es da eine Überschneidung gibt und ob die beiden
einander kannten.« »Mach ich. Laut ihrer Aussage hatte Mrs. Brankley aber nicht einmal den
Namen von Amy Mills je gehört.« »Aussagen können wahr oder falsch sein, Reek. Es ist unsere
Aufgabe, genau das zu klären.«
»Okay«, sagte
Reek.
Valerie
beendete das Gespräch. Ihr Herz pochte stärker, als sie weiterfuhr. Erregung. Jagdfieber, was
auch immer. Ein Gefühl jedenfalls, auf das sie bitter gewartet hatte. Endlich ein Schritt nach
vorne, endlich eine Spur. Sie konnte zur heißen Spur werden.
Gerade noch
rechtzeitig entdeckte sie die kleine Abzweigung, die zu der Farm führte, auf der Paula Foster
lebte. Mit einem ruckartigen Herumreißen des Steuers bog sie ab. Sie musste sich jetzt auf das
junge Mädchen
Weitere Kostenlose Bücher