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Das andere Kind

Titel: Das andere Kind Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Das andere Kind
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aber mir war klar, dass man Emma in diesem
    Moment nicht aufregen durfte. Also sagte ich nur: »Aber ich bin doch den halben Tag in der
    Schule! «
    »Ich muss dafür sorgen, dass Arvid in der Zeit ein Auge auf ihn hat«, krächzte Emma, »aber
    nachmittags könntest du doch ... « »Warum bringen wir ihn nicht endlich in ein Heim? Er kann
    doch sowieso nicht für immer hier bleiben«, sagte ich missmutig. Emma schloss erschöpft die
    Augen. »Er wäre verloren in einem Heim«, murmelte sie. »Bitte, Fiona ... «
    Was blieb mir übrig? An den folgenden Nachmittagen hatte ich Nobody wie
    eine Klette an mir kleben. Arvid beaufsichtigte ihn am Vormittag, schimpfte deswegen aber wie
    ein Rohrspatz und tat so, als müsste der Farmbetrieb zusammenbrechen, weil er das andere Kind, wie er ihn nach wie vor
    titulierte, an sich hängen hatte. Sowie ich von der Schule zurückkam und er meiner ansichtig
    wurde, schob er Nobody an mich ab, noch ehe ich überhaupt meine Tasche abgestellt und mir die
    Hände gewaschen hatte. Nobody strahlte, wenn er mich sah, und klammerte sich an mich. Ich hatte
    ihn ununterbrochen neben mir, und ich hatte nun ohnehin viele Pflichten zu erfüllen. Ich musste
    meine Schulaufgaben machen, musste das Essen kochen, das Haus in Ordnung halten, die Hühner
    füttern, die Eier einsammeln, mich um den Gemüsegarten kümmern. Nobody war nicht abzuschütteln.
    Wenn ich Unkraut gezupft hatte, mich aufrichtete und umdrehte, prallte ich gegen ihn, weil er
    direkt hinter mir stand und mich mit seinen Blicken verschlang. Wenn ich die Hühner fütterte,
    latschte er mir im Weg herum. Und in der Küche machte er mich schier wahnsinnig, denn ich
    hasste es ohnehin zu kochen, und sein seltsam auf merksamer, um Verstehen ringender Blick, mit dem er jeden meiner mehr als unsicheren Handgriffe begleitete,
    machte mich noch nervöser, als ich ohnehin schon war.
    Natürlich hatte ich richtig schlechte Laune, weil ich Chad kaum noch sehen
    konnte, jedenfalls nicht außerhalb der Mahlzeiten. Selbst wenn ich irgendwann am späten
    Nachmittag mit all meinen Verpflichtungen fertig war, wie hätte ich mich mit Chad in der Bucht
    treffen können, solange Nobody wie ein Schatten hinter mir war? Einmal schloss ich ihn in
    seinem Zimmer ein und machte mich auf und davon, aber ich bereute es, als ich zurückkehrte:
    Nobody war so in Stress geraten, dass er in die Hose gemacht und sich außerdem erbrochen hatte.
    Er und das ganze Zimmer stanken fürchterlich, und sein Gesicht war völlig verschwollen vom
    Weinen. Ein Glück nur, dass Emma nichts mitbekommen hatte. Ich musste unauffällig seine Kleider
    entsorgen, ihn in die Badewanne stecken und dann noch den Fußboden aufwischen. Voller Wut fragte ich mich, weshalb Emma sich
    nicht endlich nach einem geeigneten Platz für den Jungen umsah. Es war doch inzwischen klar,
    dass er geistig behindert war und dass sich daran auch nichts ändern würde, und er wurde
    zunehmend zu einer Last.
    Um es ihm heimzuzahlen, dass er mir so viel zusätzliche Arbeit bescherte, schrubbte ich ihn mit
    eiskaltem Wasser ab, aber er tat mir nicht den Gefallen, deswegen zu quengeln oder in Tränen
    auszubrechen. Im Gegenteil, ich hatte fast den Eindruck, er war derart dankbar für selbst diese
    Art der Zuwendung, dass er sich von mir auch hätte in Eis packen oder minutenlang unter Wasser
    drücken lassen. Obwohl er vor Kälte zitterte und seine Lippen blau anliefen, betrachtete er
    mich aus leuchtenden Augen, in denen ich Hingabe und Anbetung lesen konnte.
    »Fiona«, stammelte er lächelnd, »u-und Baby.«
    »Du heißt nicht Baby«, fuhr ich ihn an. »Du heißt Nobody! Weißt du, was ein Nobody ist? Ein Niemand! Ein
    Nichts!« Vermutlich verstand er nichts von dem, was ich sagte, denn er strahlte, als hätte ich
    ihm soeben eine Liebeserklärung gemacht.
    »Boby«, wiederholte er, und dann wieder: »Fiona!« Er streckte die Hand aus und versuchte, in
    meine Haare zu greifen. Ich wandte sofort den Kopf ab. »Lass das! Und jetzt komm raus aus der
    Wanne. Ich muss dich abtrocknen.«
    Folgsam kletterte er heraus und blieb zitternd und klappernd auf dem Vorleger stehen. Ich
    betrachtete seinen mageren, verfrorenen Körper und empfand so etwas wie ein schlechtes
    Gewissen. Es war grausam und gemein von mir gewesen, minutenlang eiskaltes Wasser über ihn
    laufen zu lassen. Er hatte sich schließlich nicht absichtlich schmutzig gemacht, sondern nur
    vor lauter Verzweiflung, weil ich ihn eingesperrt und

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