Das andere Kind
mir
noch nicht oder höchstens in allerersten, von Angst und Unsicherheit überlagerten Ansätzen
spüren. Das war bei Chad sicher ganz anders, aber er behielt noch einen klaren Kopf und fand
mich einfach zu jung. Als der Frühling kam, und mit ihm warme Tage und lange, helle Abende, und
wir uns jederzeit dort unten an unserem »geheimen« Strand hätten lieben können, geriet er wohl
mehr als einmal in Versuchung, machte sich dann aber jedes Mal von mir los und schob sich von
mir weg, soweit es ging.
Also redeten wir zumeist nur. Eigentlich immer über dieselben Themen, und
ich frage mich heute, wieso wir ihrer nicht irgendwann überdrüssig wurden, aber damals war
alles aufregend, sogar die ewig gleichen Geschichten. Genau genommen: Chads ewig gleiches
Lamento wegen des Kriegs und des Umstands, dass er daran nicht teilnehmen konnte. Es fuchste
ihn gewaltig, manchmal mac hte es ihn wütend, dann wieder fast depressiv. Ich weiß noch, dass ich einmal ganz schüchtern einwarf:
»Aber wenn du jetzt an die Front gingst, könntest du doch nicht mehr mit mir zusammen
sein!«
»Das eine hat doch nichts mit dem anderen zu tun«, erwiderte Chad.
»Doch. Entweder du bist im Krieg, oder du bist hier bei mir. Ich würde verrückt vor Sehnsucht,
wenn du nicht mehr da wärst!«
»Vielleicht verstehst du das noch nicht. Es geht hier um mehr als um meine oder deine Gefühle.
Es geht um England. Es geht um einen wahnsinnigen Diktator, der fremde Länder überfällt. Man
muss ihm doch Widerstand entgegensetzen!«
Insgeheim glaubte ich nicht, dass Hitlers Ende davon abhing, ob Chad an die Front ging oder
nicht, aber ich begriff, was er meinte, und sagte nichts mehr. Trotzdem war ich traurig. Ich
spürte den Unterschied. In Chads Leben gab es neben mir eine zweite Leidenschaft, die sehr groß
war, größer vielleicht als seine Gefühle für mich.
In meinem Leben hingegen gab es nur ihn.
Jedenfalls glaube ich mich zu erinnern, dass Emma im Winter und weit in den Frühling hinein
häufig krank war, dass wir das zwar mitbekamen, aber uns nicht klarmachten, dass es in
besorgniserregender Häufigkeit geschah. Einer Halsentzündung folgte die nächste; kaum hatte sie
einen heftigen Schnupfen überstanden, bekam sie eine Bronchitis. Der Winter war sehr kalt und
rau, und sicher hatte sie damit gerechnet, dass alles besser würde, wenn es wieder wärmer wäre.
Aber im Mai 1942, der ungewöhnlich heiß und trocken verlief, hatte sie einen Husten, an dem sie
fast zu ersticken schien, und nachdem sie sich röchelnd und keuchend trotzdem Tag für Tag aus
dem Bett und an ihre Arbeit geschleppt hatte, bekam sie so hohes Fieber, dass Arvid, der sich
sonst nur wenig oder überhaupt nicht um seine Frau kümmerte, endlich einen Arzt rief. Dieser
stellte eine beginnende Lungenentzündung fest und verordnete strikte Bettruhe.
»Eigentlich müssten Sie in ein Krankenhaus, Emma«, sagte er, »aber ich wage kaum, Ihnen das
vorzuschlagen, da ich mir Ihre Antwort schon denken kann.«
»Ich will nicht von daheim weg«, krächzte Emma auch prompt.
Er wandte sich zu mir um. Ich hatte ihn ins Haus gelassen und nach oben geführt, und stand nun
etwas ängstlich in der Zimmertür. Um meine eingangs gestellte Frage zu beantworten, wann es uns
auffiel, dass Emma kränkelte: Ich glaube, in diesem Moment fiel es mir auf. Reichlich spät, und
ich schämte mich dafür.
»Du wirst dich um Emma kümmern«, sagte der Arzt zu mir. »Du wirst ihr schöne, kräftige
Fleischbrühe kochen und darauf achten, dass sie sie auch isst. Sie muss viel Wasser trinken.
Und sie bleibt im Bett, verstanden? Ich will nichts davon hören, dass sie sich nach unten
schleppt, dort für die Familie das Essen zubereitet oder das Haus in Ordnung hält. Sie braucht
vollständige Ruhe.«
Ich versprach, alles zu tun, was er sagte. Ich hatte Angst. Ich wollte unbedingt für Emma
sorgen. Nachdem der Arzt gegangen war, ließ sie mich wissen, wem ihre Hauptsorge galt: Nobody
natürlich.
»Du musst dich um Brian kümmern, während ich krank bin«, flüsterte sie, »bitte, Fiona, er hat
sonst niemanden. Arvid kann ihn nicht besonders gut leiden, und für Chad ist er gar nicht
vorhanden. Er ist so ein armer kleiner Kerl ... « Sie musste husten und rang mit qualvoll
verzerrtem Gesicht nach Luft.
Ich hätte ihr gern gesagt, dass auf mich beides zutraf, ich konnte Nobody
ebenfalls nicht leiden und löste das Problem, indem ich ihn wie ein Nichts behandelte,
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