Das andere Ufer der Nacht
bereit.«
Ich hatte noch einen Einwand. »Die Fahrt ist sehr gefährlich. Uns kann viel passieren. Die Dunkelheit liegt wie ein dichter Sack über uns, wir können nichts sehen. Trotzdem kann uns einer auflauern…«
»Was brauchen wir zu sehen, wenn wir uns fühlen?«
Da hatte sie auch wieder recht. Am liebsten hätte ich losgelacht, wenn die Lage komisch gewesen wäre. Leider war sie es nicht. Ich war in eine brandgefährliche Situation hineinmanövriert worden und musste mir erst einmal etwas einfallen lassen, um da wieder herauszukommen.
»Gut«, stimmte ich zu, »dann löse mir die Fesseln.«
Viviana drückte sich um eine halbe Schrittlänge zurück. »Das will ich gern machen, aber rechne dir nur nichts aus.«
»Wieso?«
»Denke daran, dass sich die Waffen in meinem Besitz befinden. Und nicht nur deine Pistole, auch die der anderen. Wenn ich merke, dass du mich hintergehen willst, schieße ich sofort.«
»Ich weiß, wozu Frauen fähig sind, wenn sie enttäuscht werden. In der Kriminalistik gibt es dafür genügend Beispiele.«
»Bei den Männern aber auch.«
»Das streite ich nicht ab.«
Es war grotesk. Eigentlich hätten wir uns mit anderen Problemen herumschlagen müssen, als über irgendwelche Verhältnisse zwischen Mann und Frau zu reden. Sie löste sich von mir.
Zum Glück waren wir in ein ruhigeres Fahrwasser geraten, so dass Viviana auch auf der Barke stehen konnte, ohne gleich in die Fluten geschleudert zu werden. Sie schritt um mich herum und machte sich an meinen Fesseln zu schaffen.
Ein Messer trug sie nicht bei sich. Wenn sie es mit den bloßen Händen nicht schaffte, wollte ich ihr mein Taschenmesser geben. Wie ich mich später, wenn ich wieder Bewegungsfreiheit besaß, aus der Affäre winden sollte, das wusste ich jetzt noch nicht. Ich konnte nur hoffen, dass mir im rechten Moment noch etwas einfiel und ich das Mädchen damit überraschte.
Sie hatte ihre Mühe. Ich hörte sie flüstern. Es klang wie ein Fluch. Dann endlich hatte sie den ersten Knoten geschafft. Ein wenig lockerte sich der starre Ring um meine Hände.
Vorerst konzentrierte ich mich auf die Fahrt und nicht auf die Tätigkeit der jungen Spanierin.
Ich sah nichts. Es war keine Weltraumschwärze, die mich umgab, oder die Finsternis einer Dimension, diese Dunkelheit war eine andere. Zwar auch sehr dicht, aber nicht so kalt und leblos wie die zwischen den Gestirnen.
Wenn die Barke ihr Ziel, das andere Ufer der Nacht, wie es genannt wurde, erreichen wollte, musste sie irgendwann von der Flussmitte nach Backbord fahren. Das war bisher noch nicht geschehen, wir nahmen noch immer den gleichen Kurs, der uns auf der Mitte des unterirdischen Flusses weitertrieb.
Die Luft in diesem endlos scheinenden, unterirdischen Gewölbe war kühl, sogar kalt, wenn ich richtig darüber nachdachte. Das Wasser gischtete oftmals über Bord, besonders dann, wenn wir in Gegenoder Querstrudel gerissen wurden. Längst war ich durchnässt, ebenso die Stricke. Es wurde wirklich Zeit, dass sie jemand löste. Viviana gab ihr Bestes. Ich spürte ihre Finger an meinen Gelenken, manchmal drückten auch ihre Nägel in mein Fleisch, das angeschwollen sein musste, hörte auch ihr Schnaufen und konnte feststellen, dass die Stricke nicht mehr so eng saßen.
Ich hatte mit dem Gedanken gespielt, ihr das Messer zu überlassen. Wie es aussah, würde sie auch ohne Hilfsmittel die Stricke von meinen Gelenken lösen können.
Was musste in diesem Mädchen vorgehen! Sie riskierte Kopf und Kragen, um zu dem Ziel zu gelangen, das ihr ihre Mutter gesteckt hatte. Das Geschlecht sollte bestehen bleiben! Und einen Mann für dies Ziel hatte sie sich auch ausgesucht. Mit allen Konsequenzen, auch mit der, dass die Stricke fielen. Endlich waren meine Hände frei, und ich vernahm aus dem uns umgebenden Dunkel Vivianas Stimme: »Jetzt hast du bekommen, was du wolltest. Nun bist du an der Reihe, Wort zu halten.«
»Augenblick noch, Mädchen…«
Sie reagierte sauer. »Was heißt das? Willst du dein Versprechen nicht einhalten?«
»Davon habe ich nichts gesagt«, erwiderte ich ächzend, denn ich hatte mit meinen Schmerzen zu kämpfen, die durch die Hände und Gelenke schossen. Nichts wurde mehr abgesperrt, der Kreislauf konnte sich wieder frei entfalten, und ich hatte das Gefühl, als würden unzählige Ameisen ihre Säure in meine Finger spritzen.
»Was ist denn?«
Ich erklärte es der jungen Spanierin.
Sie verstand und drängte mich auch nicht. Nach wie vor hatte ich mich
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