Das andere Ufer der Nacht
mit dem Rücken gegen den Knochenmast gelehnt. So konnte ich am besten das Gleichgewicht halten und begab mich daran, die Gelenke zu massieren. Das Scheuern und Kneten half etwas. Allmählich konnte ich mich gedanklich wieder mit der näheren Zukunft befassen. Einen Vorteil besaß das Mädchen. Es hatte die Waffen an sich genommen, und ich konnte nicht sehen, wenn sie eine der Pistolen zog und auf mich anlegte.
Liebe und Hass liegen oft dicht beieinander. Aber auch Liebe und Enttäuschung. Viviana hatte sich über alle Regeln hinweggesetzt. Wenn ich jetzt nicht mitspielte, würde sie durchdrehen, dessen war ich mir sicher. Also musste ich sehr vorsichtig zu Werke gehen und durfte sie auf keinen Fall zu misstrauisch werden lassen.
Das Gewässer war unruhiger geworden. Wahrscheinlich rutschten wir in einen engeren Tunnel hinein, Ich vernahm es an den Echos des brausenden Wassers, die von kahlen Wänden reflektiert wurden. Mir fiel es schwer, mich auf den Beinen zu halten. Viviana erging es nicht anders, bald klammerte sie sich an mir fest.
»Bist du okay?« Für ein Mädchen aus einem gottverlassenen spanischen Dorf besaß sie einen interessanten Wortschatz.
»Einigermaßen.«
»Wir müssen uns beeilen.« Sie ließ ihre Hände wandern und umfasste mein Gesicht.
Ich kam nicht dazu, eine Antwort zu geben. Im nächsten Moment wurde mir die Luft durch ihre Lippen genommen, die sie auf meinen Mund presste. Es war ein wilder, fordernder Kuss. Sie wusste genau, wie sie es anzustellen hatte, um einen Mann ebenfalls in Raserei zu bringen. Nicht allein ihre Lippen spielten da mit, sie setzte ihren gesamten Körper ein, der sich wie der einer Schlange über den meinen wand. Ich erwiderte den Kuss nicht. Das konnte ich einfach nicht, sie merkte es und zog sich abrupt zurück. Ich hörte ihr scharfes Atmen, irgend etwas musste sie gestört haben. »Du magst mich nicht.«
»Wieso?«
»Das spüre ich. Du magst und willst mich nicht. Lüge!« rief sie. »Alles war Lüge!«
»Aber Viviana…«
»Sag nichts, verdammt, sag nichts! Du hast mich belogen, du wolltest frei sein. Aber ich sage dir eins. Ich halte mein Versprechen, ich werde dich töten…«
Bevor ich noch versuchen konnte, ihren Arm festzuhalten und sie daran zu hindern, eine der Pistolen zu ziehen, hatte sie es bereits geschafft und presste mir plötzlich die Mündung der Beretta gegen die linke Wange, wo das Metall eine Beule in die Haut drückte. Ich blieb ruhig. Keine hastige Bewegung jetzt. Viviana befand sich in einem Zustand der höchsten Erregung. Sie würde sofort schießen, wenn ihr irgend etwas nicht gefiel.
»Weshalb hast du mich belogen?« fragte sie. »Weshalb nur?« Die Stimme hatte einen weinerlichen Klang bekommen. »Rede! Ich habe mich dir gezeigt. Hast du nicht meinen Körper angesehen? Er könnte dir gehören!«
»Doch. Ich habe ihn mir angesehen; nicht schlecht…«
»Dann tu es endlich! Ich will ein Kind von dir. Ich muss das Geschlecht fortsetzen, so steht es geschrieben.«
»Es geht nicht immer auf Kommando«, versuchte ich sie zu beruhigen.
»Das weißt du doch. Außerdem müssen wir uns auf andere Dinge konzentrieren. Wir werden das andere Ufer bestimmt bald erreicht haben. Dann sieht sowieso alles anders aus.«
»Was soll denn anders aussehen?«
»Hat deine Mutter nicht vom Jenseits gesprochen?«
»Ja, das hat sie, aber nur für die Fremden. Für mich nicht. Ich bin eine Marquez, und das Jenseits ist damit einverstanden, dass wir am Leben bleiben, um neue Opfer zu schicken. Das darfst du niemals vergessen. Wir müssen leben, dann läuft alles nach Plan.«
Sie war einfach nicht zu belehren. Zu tief steckte das Mädchen bereits in dieser schaurigen Erbfolge.
»Eine Chance noch, Fremder, eine Chance!«
»Welche?« ächzte ich.
Sie sagte noch nichts. Ihre rechte Hand zitterte. Es übertrug sich auch auf die Waffe, deren Mündung in meine Wange stach. Dort würde ich wohl einen blauen Fleck behalten, falls ich überlebte. »Es kommt auf deine nächste Antwort an. Wenn du sie in meinem Sinne gibst, ist alles klar. Wenn nicht, drücke ich ab und zerschieße dir den Kopf. - Willst du mit mir ein Kind zeugen?«
Was sollte ich sagen? Ich wollte ja nicht. Hätte ich das erwidert, wäre mir eine Kugel sicher gewesen. Also musste ich lügen.
Jetzt machte ich mir Vorwürfe. Ich hätte sie außer Gefecht setzen können, aber meine Hände waren nicht okay gewesen.
»Nun?«
»Ich bin einverstanden!«
Die Worte fielen mir schwer. Zum
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