Das andere Ufer der Nacht
rötlichen Schein bekommen, der sich sehr bald in der dahinterliegenden Finsternis verlor.
Ich rechnete damit, abermals in eine gewaltige Höhle zu gelangen, und war nur froh, dass ich meine kleine Bleistiftleuchte noch besaß. So würden wir nicht durch die dicke, tintige Dunkelheit stolpern müssen. Neben mir drückte sich das Mädchen von der Bank hoch. Es fasste dabei nach meiner Hand. Die Finger fühlten sich kalt an, zudem zitterten sie noch. Viviana war noch unsicher. Schon stehend fragte sie noch einmal nach. »Ich weiß es nicht genau und kenne dich auch nicht, aber trägst du mir wirklich nichts mehr nach?«
»Nein. Was war, habe ich vergessen. Ich betrachte dich als einen Menschen, der durch eine Kette unglückseliger Umstände fehlgeleitet worden ist. Das ist alles.«
»Danke.« Das letzte Wort hatte schon sicherer geklungen, und ich stand ebenfalls auf.
Einen etwas größeren Schritt brauchte ich nur zu gehen, um die Knochenbarke zu verlassen. Das Gebein ächzte unter dem Druck, als ich mein Gewicht verlagerte. Beim Aussteigen geriet das Boot noch ins Schaukeln, und ich war es, der als erster einen Fuß an Land setzte, gefolgt von Viviana Marquez. Sie hielt sich an mir fest. Ihre Finger spürte ich in Höhe des rechten Ellbogens.
Was erwartete uns?
Die Familie hatte die Barke als Buße bauen müssen. Wie weit würde diese Buße noch getrieben? Was hatten all diejenigen Menschen gesehen, die das andere Ufer der Nacht betraten? Meine Gedanken waren fast identisch mit denen des Mädchens.
»Das andere Ufer der Nacht!« hauchte sie. »Wir haben es erreicht, wir sind da. Für meine Mutter war das gesamte Leben Nacht. Und sie hat es in zwei Ufer eingeteilt. An dem einen stand sie, das andere war für sie der Tod oder das Jenseits. Deshalb dieser Ausdruck.«
Noch spürte ich persönlich nichts davon, dass wir die gegenüberliegende Seite des Lebens erreicht hatten, wo der Tod endgültig war und das Jenseits die Seelen schluckte. Ich spürte unter meinen Schuhsohlen die harten, flachen, kleinen Kieselsteine, sah die schiefen Felsen von unterschiedlicher Höhe und vor mir die freie Fläche, die von der blauschwarzen Dunkelheit bedeckt wurde.
Nichts erschien mir unnormal…
In der rechten Tasche meiner Jacke befand sich die schmale Lampe. Ich ließ die Hand bereits in der Tasche verschwinden, als Viviana etwas tat, was mir überhaupt nicht passte. Sie ging zwei Schritte vor, auch einen dritten, und plötzlich brach das Unheil über sie herein. Ich hörte ihren langgezogenen Schrei. Irgend etwas musste sie erwischt haben. Sie kippte nach vorn, als wollte sie ins Leere fallen, blieb aber in dieser Haltung hängen und streckte beide Arme aus, als gäbe es vor ihr etwas, an das sie sich klammern konnte.
Für einen winzigen Augenblick sah ich sie überdeutlich, weil ein helles, gleichzeitig fahles Licht die Umrisse ihrer Gestalt nachzeichnete, bevor die Finsternis über ihr zusammenschlug und Viviana Marquez vor meinen Augen verschwand…
Auf einmal war ich allein! Die Stelle, wo ich das Mädchen zuletzt gesehen hatte, war völlig leer und finster. Als hätte dort ein Trichter gestanden, der sie einfach verschluckte und nie mehr ausspeien wollte. Ich hatte Viviana gewarnt, sie wollte nicht auf mich hören, und ich begann, dieses Ufer mit anderen Augen zu sehen. Sollte die alte Senora doch recht gehabt haben?
Befand sich vor mir das Jenseits, das sich bereits ein neues Opfer geholt hatte?
Das Verschwinden der jungen Spanierin hatte mich gewarnt. Dementsprechend vorsichtig ging ich zu Werke. Ich wollte nicht auch noch von dieser alles verzehrenden und schluckenden Finsternis überrascht werden und vertraute auf mein Kreuz. Wenn diese Dunkelheit etwas für mich und das Kreuz Negatives war, würde es sich schon dagegen zu wehren wissen. Davon war ich fest überzeugt. Hinter mir lagen der Fluss und die Knochenbarke. Vor mir etwas Fremdes, Unheimliches, und auch ich bekam leichte Beklemmungen, als ich darauf zuschritt.
Meine Lampe vergaß ich zunächst. Das rote Licht der Knochenschädel reichte noch aus, um den Punkt zu erreichen, an dem ich Viviana hatte verschwinden sehen.
Überfallartig traf mich die andere Kraft! Von vorn und hinten fasste jemand zu, der mich regelrecht zusammendrückte, so dass mir die Luft abgeschnitten wurde. Ich wollte noch zurück und es in einem zweiten Anlauf versuchen, das brachte ich nicht mehr fertig. Von irgendwoher traf mich der Sog, wie ein gewaltiger Strudel, und ich sah
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