Das andere Ufer der Nacht
angewinkelter Arm sank nach unten. Auch die Hand mit der Waffe machte diese Bewegung mit, so dass ich die Mündung der Beretta nicht mehr auf mich gerichtet sah. Ich entspannte mich ein wenig.
»Du!« sagte sie. »Du allein trägst die Schuld. Du hättest nicht so lange zögern sollen. Es wäre jetzt alles vorbeigewesen. Statt dessen fahren wir nun…«
»Wohin?« fragte ich, als sie nicht mehr weitersprach. Sie gab mir keine Antwort, fasste nach dem Mantelstoff und raffte ihn vor ihrem Körper zusammen, als würde sie sich plötzlich wegen ihrer Blöße schämen. Sie stand auf. Es geschah mit trägen Bewegungen. Ich hörte sie flüstern, ohne etwas von ihren Worten zu verstehen, dafür geschah etwas anderes. Die Strömung nahm ab. Das Knochenschiff bekam weniger Fahrt und einen stärkeren Drall nach Backbord, so dass es nicht mehr lange dauern würde, bis wir das Ufer erreichten.
»Komm endlich hoch!«
In ihrer gebückten Haltung fuhr Viviana herum, und ich sah wieder in die Mündung meiner eigenen Waffe. »Kein Wort mehr, sonst drücke ich ab.«
Meine freie Hand hob ich hoch. »Schon gut, Mädchen, ich hatte dich nur erinnern wollen.«
»Darauf pfeife ich.«
Da griff ich zu. Meine Rechte war so flink wie eine vorschnellende Schlange. Bevor Viviana sich versah, hatte ich die Beretta gepackt und sie ihr aus den Fingern gerissen. Überrascht und fast entsetzt starrte sie auf ihre leere Hand.
Jetzt richtete ich die Mündung auf sie. »Die ist bei mir besser aufgehoben!«
Sie funkelte mich an. Ich ließ es zu, dass sie aufstand, sich dann wieder fallen ließ und auf die Ruderbank aus Knochen setzte. »Okay, du kannst sie behalten.«
»Das werde ich auch.«
Über ihren Knien legte Viviana die Hände zusammen. »Und jetzt?« fragte sie.
»Wie soll es weitergehen? Was hast du dir dabei gedacht?«
»Das Jenseits wartet!«
»Auf mich nicht!«
Da begann sie schrill zu lachen. »Auch auf dich, Blonder. Auch auf dich. Es wartet auf uns.«
»Du hast die Fahrt freiwillig unternommen. Wir werden uns den Problemen stellen. Ich gebe dir nur einen Rat. Versuche nicht, die Seite zu wechseln, bleibe bei mir, mache uns keine Schwierigkeiten, hast du kapiert?«
»Natürlich.«
»Du kannst die Pistolen so lange behalten, bis wir alles überstanden haben. Diesen Vertrauensbeweis gebe ich dir vor.«
Sie lachte mich hart an. »Wie großzügig von dir.«
Ich hob die Schultern. »Das hat damit nichts zu tun. Wir werden bald an Land gehen und befinden uns dann in einer Welt, die ich nicht kenne, in der sich aber jeder behaupten muss.«
»Es wird uns verschlingen.«
Ich hob die Schultern. »Falls es das Jenseits ist.«
»Verlass dich darauf.«
Das wollte ich lieber nicht. Zunächst einmal hatte ich lange genug diskutiert, ging vor und schaute mir den Totenschädel an, der am Bug in die Höhe wuchs. Auch dieser Schädel stand auf einem kleinen Mast aus Knochen. Sein Inneres war von dem roten Licht ausgefüllt, und es drang auch durch die offenen Augenhöhlen, so dass die unmittelbare Umgebung ebenfalls erleuchtet wurde.
Ich kniete mich hin und hörte die Frage des Mädchens. »Was hast du vor?«
»Der Schädel muss eine Bedeutung haben, dessen bin ich mir sicher. Das will ich herausbekommen.«
»Er und der andere sind die Zeichen.«
»Wieso?«
»Eine Art Leuchtturm, ein Anmelder, der uns anzeigt, damit die Kräfte des Jenseits Bescheid wissen, dass jemand zu ihnen kommt. Sie werden uns also erwarten.«
»Kennst du sie? Hast du sie jemals gesehen? Weißt du genau, wie sie aussehen?«
»Nein.«
»Wieso nicht?«
»Weil keiner lebend zurückgekommen ist.«
Da konnte sie recht haben. Auch ich hatte mit dem Sterbenden gesprochen. Er hatte es zwar noch geschafft, das andere, rettende Ufer zu erreichen, aber er war so geschwächt worden, dass sein Lebensfaden endgültig riss.
Noch einmal bekam unser Boot den nötigen Schwung. Es kam mir vor, als wäre es unter Wasser von einem Steuermechanismus gedreht worden, und lief nun in einem spitzen Winkel auf das andere Ufer der Nacht zu. Wo würde es anlegen?
Der Schädel mit seiner roten Leuchtkraft schien keine besonders magische Bedeutung zu haben, aus diesem Grunde untersuchte ich ihn auch nicht näher und zog mich soweit zurück, dass ich neben dem Mädchen Platz nehmen konnte.
Viviana rückte zur Seite, damit ich den nötigen Platz bekam. Die Erregung war ihr anzusehen. Nur mühsam behielt sie die Kontrolle über sich. Hin und wieder lief ein Zucken um ihre Mundwinkel,
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