Das Antlitz der Ehre: Roman (German Edition)
umherging, statt das lange Gewand eines Domherrn zu tragen. Aber erst das Siegel des päpstlichen Legaten oder eines anderen hohen Würdenträgers in Vertretung des Papstes würde ihn gänzlich aus dem Domkapitel lösen können. So war es nur natürlich und richtig, dass er in diesen Tagen der Trauer sein prächtiges langes Gewand wieder anlegte und sich unter die anderen Domherren mischte, die rasch eine Lösung für das nun führerlose Land finden mussten. Graf Hans von Wertheim, der Vater des ermordeten Pflegers, und sein Bruder Graf Michael reisten mit einigen Gefolgsleuten an und nahmen Quartier auf der Marienfestung.
Der Tag des Begräbnisses kam und verstrich. Noch einige Stunden gönnte sich das Kapitel Zeit für Trauer, dann aber war es Zeit, die Dinge in die Hand zu nehmen. Genauer gesagt, den Mann zu finden, der das Schicksal des Landes in seine Hände nehmen würde.
Dass sie Bischof von Brunn nicht wieder an die Regierung lassen wollten, darüber waren sich alle Domherren einig. Es hatte sie viel Mühe gekostet, ihm die Zügel aus der Hand zu nehmen und ihn mit einer nicht zu großen Abfindung auf den Zabelstein abzuschieben. Sie würden nun nicht zulassen, dass sich die Laus wieder in ihrem Pelz einnistete, um sich an ihnen gütlich zu tun. Nein, wie das laufen würde, hatten sie bereits viele Jahre lang miterlebt. Das bedeutete auf der anderen Seite, sie würden sich auf einen Kandidaten einigen müssen, der die Nachfolge als Pfleger und vielleicht auch als Bischof antreten sollte.
Bis dahin waren sich die Herren des Domkapitels einig, aber genau hier endete diese Eintracht. Die Wogen türmten
sich auf. Jeder hatte seine eigenen Vorstellungen und versuchte nun, Anhänger für seinen Plan zu gewinnen. Wobei natürlich keiner von ihnen mit offenen Karten spielte. Es war nie klug, das Blatt zu früh auf den Tisch zu legen. Und so hub ein Schachern und Feilschen an, dem nur zwei der Domherren mit ungewöhnlicher Distanz begegneten und sich still im Hintergrund hielten: Albrecht von Wertheim und Dompropst Hans von Grumbach. Doch während der Propst das Gezänk aufmerksam verfolgte, hing Albrecht seinen Gedanken nach. Das Ganze interessierte ihn nicht, obwohl es das durchaus sollte. Schließlich war auch sein Schicksal untrennbar mit dem des Landes verwoben. Wie sollte es für ihn weitergehen, nun, da er keinen mächtigen Bruder mehr vorweisen konnte, der schützend seine Hand über ihn und seine Braut hielt? Er würde den Segen seines Vaters erlangen müssen, doch das schien ihm ähnlich unmöglich, wie seinen Bruder aus dem Reich des Todes zurückzuholen. Gleich nach dieser Zusammenkunft würde er mit dem Grafen sprechen. Hans von Wertheim hatte seinen Sohn zu sich beordert. Albrecht zog eine Grimasse. Nein, auf diese Unterredung freute er sich nicht gerade. Obwohl er sich nicht vorstellen konnte, was sein Vater mit ihm besprechen wollte. Das jedenfalls, was er dem Vater zu sagen hatte, würde diesem überhaupt nicht schmecken!
»Ihr habt mich rufen lassen, Vater?«
Albrecht hörte selbst, wie steif und unnatürlich die Worte klangen, aber genau so fühlte er sich, wie er so in der Tür stand, die Kappe mit der langen Feder in den Händen. Sein Vater saß aufrecht in einem gepolsterten Scherenstuhl am Feuer, das nun, da der Herbsttag sich neigte, in jeder der besseren Gästestuben des Bischofspalastes entzündet worden war.
Hans von Wertheim sah auf. »Ja, komm herein und setz dich. Nimm dir den Stuhl dort, und schieb ihn ans Feuer. Es
ist heute unangenehm feucht, und der Wind dringt kalt durch jede Ritze.«
Albrecht gehorchte, auch wenn er lieber stehen geblieben wäre. »Was gibt es?«, fragte er, als er sich gesetzt hatte, doch statt zur Sache zu kommen, sah sein Vater ihn lange aufmerksam an.
»Du siehst nicht gut aus. Blass bist du und abgehärmt wie diese Asketen in den Einsiedeleien. Ich dachte stets, ein Domherr führe ein annehmliches Leben.«
»Es ist nicht unangenehm«, wich Albrecht aus.
Der Vater nickte langsam. »Ich weiß, der Tod deines Bruders geht dir nahe.«
»Ja, so ist es«, gab Albrecht ein wenig steif zurück.
»Mir auch«, sagte der Vater mit einem Seufzer. »Und ihn dann auch noch auf diese Weise zu verlieren. Bei einem Ritter muss man jederzeit mit seinem Tod rechnen. Es gehört mit zu seinem Handwerk, und jeder Kriegszug, ja, jede Fehde bringt ihn in Gefahr. Bei einem Kirchenmann dagegen sollte man meinen, er könnte zu Ruhm und zu hohem Alter gelangen. Wie wurden
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