Das Aschenkreuz
vor kurzem verfochten, Euer eigener Sohn hätte Hand an sich gelegt und damit eine Todsünde begangen. Ihr hattet mich für meine Zweifel gerügt und angegriffen. Woher Euer plötzlicher Meinungsumschwung? Nur weil man jetzt irgendeine arme Seele aufgegriffen und ins Verlies gesteckt hat? Seid Ihr da nicht ebenso vorschnell in Eurem Urteil wie zuvor?»
Das aschgraue Gesicht des Kaufherrn wurde noch fahler. «Ihr wagt es, mir Vorhaltungen zu machen? Eine Unverfrorenheit sondergleichen.»
«Soll ich das bislang Gesagte alles notieren?», meldete sich der Schreiber zu Wort.
«Natürlich nicht, du Schwachkopf», schnauzte Nidank ihn an. «Und Ihr, Schwester Serafina, hört mir jetzt gut zu. Wenn Ihr nicht für drei Tage auf Wasser und Brot in den Turm wollt, tut Ihr ab sofort nichts anderes als unsere Fragen zu beantworten. Verstanden?»
Serafina biss sich auf die Lippen. Inzwischen war ihre anfängliche Beklommenheit Verärgerung gewichen.
«Fangen wir an. In welcher Beziehung steht Ihr zu dem Bettelzwerg Barnabas?»
«Er ist ein guter Freund.»
«Aha! Entspricht es der Wahrheit, dass Ihr dieses armselige Subjekt hin und wieder in seiner Waldhütte aufsucht?»
«Ein einziges Mal war das, und da war Barnabas krank gewesen.»
«Entspricht es der Wahrheit, dass Ihr am gestrigen Montag ein zweites Mal versucht habt, in den Christoffelsturm zu gelangen, um Euch mit dem Angeklagten zu besprechen?»
Das also hatte dieser Spürhund auch schon herausgefunden! Ließ er sie etwa beobachten? Hoffentlich hatte wenigstens Endres den Mund gehalten darüber, dass sie ihm mehr oder minder offen ein Schmiergeld angeboten hatten.
«Das will ich nicht bestreiten. Aber Barnabas war schon verlegt worden.»
«Entspricht es weiterhin der Wahrheit, dass jener Barnabas in Eurer Sammlung aus und ein geht?»
Es war ganz offensichtlich, worauf er hinauswollte – sie und die Schwestern in einen schlechten Ruf bringen. Würde er damit Erfolg haben, war es ihnen verwehrt, am endlichen Rechtstag Fürbitte einzulegen.
«Nein», wehrte sie entschieden ab. «Wir laden ihn nur sonntags nach dem Kirchgang manchmal zum Essen zu uns ein. Als Lohn für seine Hilfsdienste.»
«Aha!» Diesmal klang sein «Aha» noch schärfer. «Euch ist aber bekannt, dass der Bettelzwerg in ketzerischer Weise gegen die Geistlichkeit hetzt?»
«Nein, das tut er nicht. Er beugt vielleicht nicht das Knie vor jedem Priester, aber er ist kein Ketzer.»
«Und Euch ist vielleicht ebenfalls bekannt», fuhr Nidank scheinbar unbeirrt fort, «dass Schwesternsammlungen, die sich in der alten Tradition der Beginen sehen und sich weder Obrigkeit noch Kirchenleitung unterwerfen wollen, mit einem Bein am Abgrund der Ketzerei stehen?»
Sie schwieg.
«Antwortet!»
«Wir alle im Haus Zum Christoffel sehen uns in der Nachfolge Christi und führen ein Leben nach dem Vorbild der Apostel in Demut und Nächstenliebe, im Dienst an Armen und Kranken. Daran ist nichts Ketzerisches.»
«Führt Ihr auch ein Leben in Keuschheit?»
Verblüfft sah Serafina ihn an. «Wer unkeusch lebt, wird ausgeschlossen. Das müsstet Ihr eigentlich wissen. Wie kommt Ihr auf solch eine Frage?»
«Stellt Ihr die Fragen oder wir?»
Sie musste an sich halten, ruhig zu bleiben. Da sprach gerade der Rechte von Keuschheit! Am liebsten hätte sie Magnus Pfefferkorn, diesem dümmlich vor sich hin schweigenden Häufchen von Mann, entgegengeschleudert, was sein Ratskollege mit seinem Sohn gemacht hatte!
«Ja, wir leben keusch», erwiderte sie, «und falls Ihr auf diese Mauerschmiererei anspielt: Das ist nichts als übelste Verleumdung und eine strafbare Ehrverletzung obendrein.»
Jetzt begann Nidank ölig zu lächeln. «Wenn dem so ist – warum habt Ihr es dann nicht beim Rat angezeigt? Vielleicht weil Ihr doch etwas zu verbergen habt?»
Für einen Moment wurde ihr heiß und kalt. Wusste Nidank etwa Bescheid über sie? Aber von wem sollte er es haben? Sie ermahnte sich, ruhig zu bleiben.
«Hierüber hat die Meisterin zu entscheiden. Und über ihre Gründe müsst Ihr sie schon selbst befragen.»
«Tatsache ist jedenfalls, dass Ihr selbst, Serafina Stadlerin, eine überaus enge Verbindung
zum Angeklagten unterhaltet. Tatsache ist auch …» Nidank machte eine bedeutsame Pause. «… dass nicht nur der Bettelzwerg Barnabas am Ort des Verbrechens war, sondern auch Ihr. Und zwar beide Male!»
Dieser letzte Satz hallte ihr wie ein Peitschenknall in den Ohren. «Das ist nichts als Zufall», entgegnete sie.
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