Das Aschenkreuz
gewann an Kraft, während seine Arme gen Himmel fuhren, gerade so, als ob er vor seinen Wallfahrern die Freitagsmesse hielte.
« ER zieht empor die Wassertropfen und treibt seine Wolken zusammen zum Regen. Wer versteht, wie ER die Wolken türmt und donnern lässt aus seinem Gezelt? ER bedeckt seine Hände mit Blitzen und bietet sie auf gegen den, der ihn angreift.»
Er hielt inne, als er Serafinas fragendes Gesicht sah, und setzte dann mit Genugtuung nach:
«Buch Hiob, Kapitel 36 .»
Serafina hatte wahrlich keine Lust auf erbauliche Bibelworte. Sie wollte schon mit einem freundlichen Gruß ihren Weg fortsetzen, als ihr plötzlich und wie aus dem Nichts in den Kopf schoss, was sie bislang stets übersehen hatte und was doch von entscheidender Bedeutung war: jener Hinweis nämlich, den Jodok ihr, ohne es zu wissen, gegeben hatte. Hatte er ihr nicht erzählt, dass Hannes ihm kurz vor seinem Tod etwas zeigen wollte, was er entdeckt hatte? Eine Sache, die so bedeutsam war, dass er und Bruder Rochus hatten sterben müssen. Wie hatte sie die ganze Zeit über nur so blind sein können?
Jetzt wurde ihr auch klar, was sie diesen Mönch, als Kaplan der Blutwunderkapelle, längst hätte fragen sollen.
Doch Blasius war schneller. «Ich habe gehört, dass Ihr vor den Heimlichen Rat geladen wart, liebe Schwester. Ihr steckt doch nicht etwa in Schwierigkeiten?»
«Aber nein, Pater, wo denkt Ihr hin?» Innerlich schüttelte sie den Kopf. Woher wusste er das schon wieder? «Eine kurze Zeugenbefragung», sagte sie laut. «Nichts weiter von Bedeutung.»
Er nickte ihr begütigend zu. «Das tät mir auch im Herzen weh, wenn eine gottesfürchtige junge Frau wie Ihr da hineingezogen würdet …»
«Ich will Euch nicht länger aufhalten, Pater, Ihr habt es gewiss eilig. Aber eine Frage hätte ich noch.»
«Fragt nur, liebe Schwester, fragt nur.»
«Und zwar an Euch als Bursar, als Verwalter der Klosterkasse. Gehen die Aufbauarbeiten Eures Waldklosters gut voran? Ich meine jetzt, wo die Menschen angesichts des Blutwunders so überaus reichlich geben.»
Blasius wirkte wie vom Donner gerührt. Schließlich entgegnete er scharf: «Erfreulicherweise geht es voran, wenn auch in kleinen Schritten. Aber mit Gottes Hilfe werden unsere Brüder auf dem Wald bald wieder eine angemessene Heimstatt haben.»
«Und Bruder Rochus – seine Seele ruhe in Frieden – war der Küster der Kapelle?»
«Ja – aber was hat das Euch zu scheren?» Er straffte die Schultern und versuchte sich erneut an seinem immer gleichen Lächeln. «Oder möchte Eure Sammlung etwa eine Ablassspende geben? Das würde uns Brüder, die wir diese heilige Stätte betreuen, natürlich von Herzen freuen.»
«Wer weiß?» Sie sah ihm geradewegs ins Gesicht.
«Nun, Schwester Serafina, ich muss leider weiter. Gott zum Gruße.»
«Ich auch, die Frühmesse ruft. Gott zum Gruße, Pater Blasius.»
Sie blickte ihm nach, wie er in seinem durchnässten Habit davoneilte, Kopf und Schultern gegen den Regen gebeugt – ein großer, heller Fleck in diesem regengrauen Morgen. Plötzlich stutzte sie. Hatte Blasius die Kapelle nicht eben «heilige Stätte» genannt? Wo hatte sie das schon mal gehört?
Das Böse ist an heiliger Stätte. Und es kann hell sein wie ein nebliger Sommermorgen.
Jetzt fiel es ihr ein: Das waren Barnabas angstvolle Worte gewesen.
Die Morgenmahlzeit verbrachte Serafina in sich gekehrt und ohne dass sie sich an den Gesprächen der anderen beteiligte. Catharina schenkte ihr hin und wieder ein aufmunterndes Lächeln, doch es war weniger die gestrige Befragung in der Kanzlei, die ihr durch den Kopf ging, als vielmehr jener ungeheure Gedanke, der seit der Begegnung mit Blasius von ihr Besitz ergriffen hatte: Das Böse ist hell – hell wie die Tracht der Brüder zu Sankt Wilhelm!
Wieder einmal war sie mit ihren Mutmaßungen in die Irre gegangen. Nicht Ratsherr Nidank mit seiner Vorliebe für Knaben stand am Ende des Fadenknäuels, sondern die Mönche, die in Sankt Peter und Paul Dienst taten. Nicht ausgeschlossen, dass Nidank auch mit drinhing, der Schlüssel zu diesen Morden indessen musste beim Blutwunder selbst liegen.
Pater Blasius war noch nicht im Schatten des Untertors verschwunden gewesen, da hatte sie vor Augen gehabt, was sie bei ihrem letzten Besuch der Wallfahrtskapelle beobachtet hatte. Wie der stigmatisierte Einsiedler auf ein Zeichen gewartet hatte, gleich einem Gaukler beim Possenspiel, und wie schließlich der junge Mönch Immanuel sich
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