Das Aschenkreuz
zu laufen.
Nach kurzem Zögern betrat sie die Portalhalle. Sofort überkam sie, wie jedes Mal, diese tiefe Ergriffenheit angesichts der Schönheit des Münsters. Die beiden Türflügel standen weit offen, und noch bevor sie in die angenehme Kühle des Kirchenschiffs eintauchte, verharrte sie vor der Madonnengestalt, die hier die Kirchgänger begrüßte. Serafina liebte dieses Standbild. So viel Leben und Wärme strahlte Maria mit dem Jesuskind auf dem Arm aus, so innig und liebevoll blickten sich Mutter und Sohn in die Augen, dass man meinte, sie würden gleich zärtlich miteinander zu sprechen beginnen.
Das riesige Kirchenschiff war menschenleer, nur von weit hinten aus der Sakristei drangen Geräusche herüber. Sie benetzte sich am Weihwasserbecken die Finger, schlug das Kreuzzeichen und sah sich um. Ebenso wie der majestätische Münsterturm strebte auch im Kircheninneren alles himmelwärts in unvorstellbare Höhe: die Pfeiler und die Säulenbündel, die Spitzbögen und die kostbaren farbigen Fenster, die wie Edelsteine funkelten und das irdische Licht in himmlisches zu verwandeln schienen. Heute allerdings hatte Serafina keinen Blick für diese Herrlichkeiten. Ziellos lief sie umher zwischen den mannshohen Figuren von Christus und seinen Jüngern, die an den Pfeilern des Mittelschiffs wachten, musterte jedes Bildwerk, jedes Fenster, jede in Stein gehauene Botschaft, ohne etwas zu entdecken, das ihr weiterhalf.
Sollte sie ihre Suche besser draußen fortsetzen, bei den Propheten? Oder bei den Wasserspeiern, diesen wundersamen Fabelwesen halb Mensch, halb Vieh, durch deren Mäuler das Regenwasser abgeleitet wurde und die mit ihren angsteinflößenden Grimassen und Gestalten das Böse fernhielten?
Sie versuchte sich zu erinnern, was genau Barnabas im Verlies zu ihr gesagt hatte. Zum Glück verfügte sie, wie viele ihrer Mitmenschen, über ein sehr gutes Gedächtnis. Sie musste nur zur Ruhe kommen.
Mit geschlossenen Augen lehnte sie sich an eine der Säulen. Barnabas hatte vom Anblick der Ermordeten als einem Bild gesprochen, einem schrecklichen Bild, das sie dort finden würde, wo die ganze Weltgeschichte erzählt wurde.
Natürlich – die Portalhalle! Dort, über der Kirchentür sowie an den Säulen, Bogenreihen und Nischen der kleinen Vorhalle, stellte sich die Heilsgeschichte dem Betrachter wie in einem aufgeschlagenen Bilderbuch dar, vom Sündenfall bis zum Jüngsten Gericht, in unzähligen kleinen und großen Wandfiguren.
Ihr Blick schweifte kreuz und quer über die Darstellungen, deren Farbe abzublättern begann – über die guten Hirten zu Bethlehem, die fünf klugen und die fünf törichten Jungfrauen, über Adam nach dem Sündenfall, das betende Teufelchen, den Evangelisten Johannes, der mit siedendem Öl übergossen wurde …
Da war es! Ihr Atem stockte. Genau nach diesem Bild hatte sie in Gedanken immer gesucht, und auch Barnabas hatte es zweifellos mit seiner Andeutung gemeint: das Bildnis des Christusverräters Judas Ischariot, der mit einem Strick um den Hals am Baum hing und dessen Hand die dreißig Silberlinge des Verrats entglitten. Da seine schändliche Seele nicht durch den Mund entweichen konnte, war ihm der Bauch aufgeplatzt, aus dem die Gedärme hervorquollen, während seine Seele von zwei grinsenden Teufelchen aufgespießt wurde. Eine überaus grausame Darstellung war das, gleich links über der Tür, und vor Serafinas Auge verschmolzen die beiden nicht minder grausam zugerichteten Leichname von Hannes und Bruder Rochus jetzt zu ebendiesem Bild.
Mit dem zweifachen Mord hatte einer ein Exempel statuiert, begriff sie mit einem Schlag. Ein Exempel zur Warnung an mögliche weitere Verräter eines großen Geheimnisses. Und doch fehlte noch etwas zur Lösung, das spürte sie. Ein letzter Hinweis, von dem sie zwar wusste, aber der ihr trotz allen Nachsinnens nicht in den Kopf kommen wollte.
Sie hatte die ganze Zeit auf das Bogenfeld über der Kirchentür gestarrt. Als sich ihr jetzt eine schwere Hand auf die Schulter legte, erschrak sie fast zu Tode. Doch es war nur der dicke, behäbige Münsterpfarrer, der offensichtlich hocherfreut war, dass jemand aus der Schwesternsammlung sein Gotteshaus besuchte.
«Ja, er hat schwer büßen müssen für seine Sünde, der Apostel Judas. Und doch hat er mit seinem Verrat und seinem Freitod hernach nichts andres getan, als Gottes Heilsplan zu erfüllen.»
Dann nickte er ihr freundlich zu und ging wiegenden Schrittes seiner Wege.
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