Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Das Attentat

Das Attentat

Titel: Das Attentat Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Harry Mulisch
Vom Netzwerk:
zu können.) Er hatte rasende Kopfschmerzen, die aber auf dem Rücksitz des Autos, im wohltuenden Schatten, bald fast vollständig verschwanden. Vermutlich hatte auch der Wein beim Essen etwas damit zu tun.
    In der Ferne dröhnte ununterbrochen der Verkehr, aber von der Straße draußen waren nur die Stimmen der Leute zu hören, die auf ihren Balkonen oder auf den Treppen vor den Häusern saßen. Irgendwo spielte ein Kind auf einer Blockflöte. Da Sandra nicht hatte einschlafen können, hatte Saskia sie nach dem Essen ins große Bett gesteckt, sich für einen Moment zu ihr gelegt und war sofort selbst eingeschlafen.
    Müde starrte Anton vor sich hin. Er dachte an Takes und daran, daß im Leben offensichtlich alles ans Licht kam, früher oder später erledigt und ad acta gelegt wurde. Wie lange war es nun schon her, seit er bei Beumers war? Ungefähr fünfzehn Jahre – mehr, als er 1945 selbst zählte. Herr Beumer lag nun sicher endlich ruhig in seinem Sarg, und vermutlich war auch Frau Beumer schon tot. In Haarlem war er seit dem Besuch bei Beumers nicht mehr gewesen. Und Fake? Weiß Gott, wo der steckte, es war ohnehin gleichgültig; vielleicht war er Betriebsleiter der Werkstatt in Den Helder geworden. Mit Takes war das etwas anders. Sie hatten geweint, zu zweit. Es war das erste Mal, daß er über das, was passiert war, geweint hatte – und zwar nicht seiner Eltern oder Peters wegen, sondern über den Tod eines Mädchens, das er nie gesehen hatte. Truus… Truus wie? Er richtete sich auf und versuchte, auf ihren Familiennamen zu kommen, aber es gelang ihm nicht. Erschossen in den Dünen. Blut im Sand.
    Er schloß die Augen, um sich in die Dunkelheit der Zelle zurückzuversetzen. Ihre Finger, die zart über sein Gesicht fuhren. Er legte die Hände vors Gesicht und sah mit großen Augen durch das Gitter seiner Finger. Er holte tief Luft und strich sich mit beiden Händen die Haare nach hinten. Er durfte sich nicht damit beschäftigen, es war nicht ungefährlich. Es ging ihm nicht gut, er sollte sich ins Bett legen. Er verschränkte die Arme und starrte wieder vor sich hin.
    Takes hatte ein Foto von ihr. Sollte er zu ihm gehen und sie nachträglich identifizieren? Sie war Takes' Freundin gewesen, anscheinend seine große Liebe, und selbstverständlich hatte er ein Recht darauf, von ihm einen letzten Bericht über sie zu bekommen. Aber er konnte sich überhaupt nicht erinnern, was sie gesagt hatte, nur daran, daß sie viel geredet und sein Gesicht berührt hatte. Durch einen Besuch bei Takes würde er nur erreichen, daß sie für ihn, Anton, aus ihrer großen und unsichtbaren Anwesenheit geholt und auf ein bestimmtes Gesicht reduziert würde. Wollte er das? Würde es das, was sie ihm bedeutete, nicht kleiner machen? Es kam nicht darauf an, ob ihr Gesicht schön oder häßlich, anziehend oder abstoßend oder wie auch immer sein würde, sondern darauf, daß es so sein würde, wie es gewesen war, und nicht anders, er hatte nicht die leiseste Vorstellung von ihr – nur eine abstrakte Ahnung (vergleichbar der, die katholische Kinder von ihrem ›Schutzengel‹ haben).
    Und dann geschah folgendes: Mit einer Bewegung, die an die Schwerelosigkeit eines Trapezkünstlers erinnerte, der aus großer Höhe in ein Fangnetz springt und dann hochschnellt, erhob er sich aus seiner liegenden Stellung und betrachtete knieend das Foto, das er die ganze Zeit angestarrt hatte, ohne sich dessen bewußt zu sein. Es stand in einem Rahmen auf dem kupferbeschlagenen Mahagonischrank mit der Sextantensammlung. Im Halbdunkel war kaum zu erkennen, was es zeigte, aber auch ohne es richtig sehen zu können, wußte er es: Saskia – in einem knöchellangen schwarzen Kleid, der Bauch gewölbt von Sandra, die ein paar Tage später geboren werden sollte. Es stimmte nicht, daß er keine Vorstellung von der jungen Frau hatte, die, wie sich nun herausgestellt hatte, Truus hieß! So hatte er sie sich von Anfang an vorgestellt, so und nicht anders: wie Saskia! Das war es, was er auf den ersten Blick in ihr erkannt hatte, an jenem Nachmittag beim Stone of Scone. Saskia war die Verkörperung einer Vorstellung, die er seit seinem zwölften Lebensjahr mit sich herumgetragen haben mußte, ohne es zu wissen, die aber erst Jahre später in ihrer Person offenbar geworden war – nicht durch das Bewußtwerden der Vorstellung, sondern als Liebe, die sofort da war, und als Sicherheit, daß sie bei ihm bleiben und ihm ein Kind gebären mußte!
    Beunruhigt begann er im

Weitere Kostenlose Bücher