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Das Attentat

Das Attentat

Titel: Das Attentat Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Harry Mulisch
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Zimmer auf und ab zu gehen. Was waren das für Gedanken? Vielleicht war etwas Wahres daran, vielleicht aber auch nicht; aber selbst wenn es tatsächlich wahr wäre, war er dann nicht im Begriff, Saskia etwas anzutun? Zuallererst war sie eine eigene Persönlichkeit. Was hatte sie mit einer in den Dünen erschossenen und schon lange verwesten Widerstandskämpferin zu tun? Wenn sie nicht sie selbst sein durfte, sondern Stellvertreterin für eine andere sein mußte, war er dann nicht im Begriff, seine Ehe aufzulösen? Dann hatte sie keine Chance, denn sie konnte nicht jemand anders sein. Dann war er sozusagen dabei, sie zu töten. Doch andererseits würde er – vorausgesetzt, seine Vermutung war richtig – jetzt nicht mit Saskia leben, wenn er damals in der Zelle unter der Polizeiwache nicht dem Mädchen begegnet wäre. Dann waren die beiden Frauen nicht voneinander zu trennen. Obwohl: dazwischen stünde natürlich noch seine Phantasie. Wahrscheinlich ähnelte Saskia der Widerstandskämpferin gar nicht, denn er wußte ja nicht, wie sie ausgesehen hatte. Sonst hätte Takes wohl auch anders auf Saskia reagiert, die er kaum beachtet hatte. Saskia ähnelte ausschließlich der Vorstellung, die Truus in ihm, Anton, geweckt hatte. Aber woher kam die Vorstellung? Warum war es gerade diese und keine andere? Vielleicht stammte sie aus einer ganz anderen Quelle, vielleicht lehnte sie sich – Freud läßt grüßen – an das Bild seiner Mutter an, das er sich als Kind in der Wiege von ihr gemacht hatte.
    Er ging auf den Balkon und schaute hinunter, sah aber nichts. Wenn er im Krankenhaus hörte, daß am nächsten Tag eine neue Kollegin oder ein neuer Kollege kommen würde, die oder der soundso hieß, hatte er stets sofort eine Vorstellung von ihr oder ihm. Sie stimmte nie und war sofort vergessen, wenn er die betreffende Person sah – aber woher kam diese Vorstellung? Mit bekannten Schriftstellern und Künstlern war es ihm ähnlich gegangen: Wenn er erstmals ein Bild von ihnen zu sehen bekam, fiel er manchmal von einer Überraschung in die andere, also mußte er, ohne sich dessen bewußt zu sein, eine Vorstellung von ihnen gehabt haben. Es kam sogar vor, daß er, nachdem er ein Bild gesehen hatte, das Interesse an dem Werk verlor. Bei Joyce war es ihm so ergangen – aber nicht, weil er häßlich war. Sartre war noch häßlicher, aber sein Bild hatte das Interesse noch gesteigert. Anscheinend war die Vorstellung manchmal richtiger als die Wirklichkeit.
    Mit anderen Worten: es war nichts dagegen einzuwenden, daß Saskia seiner Vorstellung von Truus glich. Truus hatte damals ein Bild in ihm heraufbeschworen, dem Saskia zu entsprechen schien, und dieses Bild hatte nicht Truus, sondern er geschaffen, und woher es kam, war ein Geheimnis ohne Bedeutung. Vielleicht war es aber auch umgekehrt. Saskia hatte ihn mit dem ersten Blick ins Herz getroffen, und vielleicht bildete er sich deshalb nun im nachhinein ein, daß auch Truus so ausgesehen haben mußte. In diesem Fall wäre es Truus, der er unrecht tat, und dann war es seine Pflicht, nicht nur zu wissen, wie sie hieß, sondern auch, wie sie wirklich ausgesehen hatte, sie selbst: Truus Coster.
    Es war kühler geworden. In der Ferne hörte er die Sirenen von Polizeiautos, es war wieder etwas los in der Stadt, wie nun schon seit fast einem Jahr. Es war halb elf, und er beschloß, Takes jetzt sofort anzurufen. Er ging nach oben, ins Schlafzimmer. Auch dort waren die Vorhänge noch offen. Die Bettdecken waren zurückgeschlagen, und Sandra lag unter einem Laken und schlief mit offenem Mund; Saskia lag halb bekleidet neben ihr, einen Arm um sie gelegt. Er blieb in der warmen schläfrigen Stille stehen und betrachtete die beiden. Er hatte das Gefühl, gerade etwas gestreift zu haben, das ihm jetzt wie eine heillose Verwirrung vorkam: überdrehte Hirngespinste, hervorgerufen von einem Sonnenstich. Er sollte alles vergessen und ebenfalls schlafen gehen.
    Statt dessen ging er zu seiner Jacke, die Saskia über eine Stuhllehne gehängt hatte, und zog mit zwei Fingern den Zettel aus der Brusttasche – und hatte dabei das vage Gefühl, etwas zu tun, das nicht richtig war.

5
    »Any time«, hatte Takes gesagt, als Anton ihn fragte, wann er kommen dürfe, »jetzt sofort, würde ich sagen.« Als Anton entgegnete, daß er Kopfschmerzen habe, sagte Takes: »Wer nicht?« Anton hatte am nächsten Tag Dienst bis vier Uhr, sie verabredeten sich für halb fünf.
    Die Hitzewelle hielt an. Es hatte ihn viel

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