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Das Attentat

Das Attentat

Titel: Das Attentat Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Harry Mulisch
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hockte und Sandra einrieb, ohne daß sie es merkte. Die Sonne stand nun am höchsten. Im Wasser flog ein Ball hin und her, unter einem aufgespannten Segeltuch spielten zwei Jungen Gitarre. Kleine Kinder liefen unermüdlich immer wieder ins Wasser und leerten ihre Eimerchen in Sandkuhlen, als wären sie beseelt von der unerschütterlichen Überzeugung, daß es irgendwann einmal nicht versickerte. Anton nahm sein Buch und versuchte etwas zu lesen, doch auch im Schatten seines Kopfes blendete ihn das Papier. Eine Sonnenbrille hatte er nicht dabei.
    Sandra begann zu quengeln, und Saskia ging noch einmal mit ihr ins Wasser. Als sie herauskamen, liefen sie triefend ein Stück den Strand hinunter zu einem kleinen Menschenauflauf, aber Sandra kam gleich darauf heulend zu Anton zurückgerannt: ein paar Jungen hackten eine violette Qualle, die so groß war wie eine Bratpfanne, mit Schaufeln in Stücke, und die Qualle konnte sich nicht wehren. Mit einer Entschiedenheit, die sie von ihrer Mutter geerbt hatte, begann Saskia, ihre Sachen zusammenzusuchen. »Ich gehe mit Sandra im Dorf einkaufen, und dann fahren wir. Das Kind ist todmüde. Erst die Kirche und die Beerdigung, und dann noch das im Trauerhaus…« In der Hocke sitzend, rieb sie Sandra so heftig ab, daß das Kind sich kaum auf seinen kleinen Beinen halten konnte.
    »Dann komme ich am besten gleich mit.«
    »Nein, bleib lieber hier, sonst dauert es nur noch länger. Wir trinken noch etwas, und dann holen wir dich ab.«
    Er sah ihnen nach, um noch einmal zu winken, aber sie stapften die Düne hinauf, ohne sich umzusehen. Als sie verschwunden waren, legte er sich schweißglänzend auf den Rücken und schloß die Augen…
    Allmählich entfernten sich die Geräusche auf dem Strand und umgaben ihn wie die Schale einer Kugel, die so groß war wie die Himmelskuppel. Wie ein Punkt lag oder schwebte er mittendrin, in einem leeren, rötlichen Raum, der sich schnell von der Welt entfernte. Etwas begann zu stampfen, etwas Unterirdisches, aber da war keine Erde; der Raum selbst stampfte und dröhnte. Es wurde dunkler und wurde wolkig, wie ein Tropfen Tinte, der in ein Wasserglas fällt: verschwimmende Vermischung, die keine Vermischung ist, plasmatische Bewegung, Verwandlung der Gestalt, eine verschwommene Hand, die sich flüchtig in ein altmodisches Professorengesicht mit Kinnbart und Kneifer verwandelt, und dann in einen geschmückten Zirkuselefanten auf einem flachen Wagen. Das Dröhnen kommt nun von einem Zug, der über ein Schienennetz voller Weichen fährt und dann aufgeht in einem Fetzen Musik, wogendem Getreide. Alles wird schwerer in der herabtröpfelnden Nacht. Aus dem federgeschmückten Helm einer Rüstung flackert eine letzte Flamme auf – dann ist alles plötzlich hart, dauerhaft. Das Licht kommt zurück. Eine riesige Tür aus rosa Kristall, die nicht beleuchtet wird von dem Licht, sondern selbst Helligkeit ausstrahlt. Darüber zwei Engel mit Unterleibern aus gelappten Blättern, ebenfalls aus Kristall. Die Tür ist durch eingebaute oder eingeschmolzene, rötlich gefärbte Eisenstäbe verschlossen. Nach all den Jahren ist nichts beschädigt. Er ist zu Hause, in ›Freiruh‹. Obwohl das Haus abgeschlossen ist, geht er hinein, aber die Zimmer sind leer. Alles ist umgebaut, nicht wiederzuerkennen, überladen mit Bildern, Skulpturen, Ornamenten. Es herrscht eine Stille wie unter Wasser. Mühsam, als hielte ihn etwas zurück, watet er durch die Zimmer, die zu Sälen geworden sind. Plötzlich, mit einem Gefühl des Wiedererkennens, sieht er im Hintergrund das kleine Arbeitszimmer seines Vaters. Aber wo die schräge Wand war, ist nun ein gläserner Anbau, wie eine große Veranda oder ein Wintergarten, und darin ein kleiner Springbrunnen und der zierliche, kalkweiße Giebel eines griechischen Tempels…
    Nur mit einer Unterhose bekleidet, lag er auf dem Sofa, die Balkontüren hinaus in den warmen Sommerabend waren weit geöffnet, das Zimmer von der letzten Dämmerung und den Straßenlaternen spärlich erhellt. Erst jetzt zeigte sich deutlich, wie stark das Gesicht, die Brust und die Vorderseite der Beine verbrannt waren.
    Obwohl er mit seiner ziemlich dunklen Haut einigermaßen unempfindlich war gegen die Sonne, war nun alles so rot, als sei er fürchterlich geschlagen worden. Als Sandra ihn am Strand wachrüttelte, hatte er mehr als anderthalb Stunden geschlafen. (Im Schlaf ist der Blutkreislauf langsamer, in der Sonne hingegen muß er schneller sein, um die Hitze abführen

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