Das Auge der Dunkelheit (German Edition)
fehlte.
Am jenseitigen Ufer des Flusses setzten sie die Suche fort. Den Angaben der Karte zufolge führte der Weg dort einen Hügel hinauf, auf dessen höchsten Punkt die dritte Pagode stand. Mit Nummer vier und fünf bildete sie ein gleichseitiges Dreieck. Und exakt in der Mitte dieses Dreiecks befand sich der neunte Punkt. Der Standort des versteckten Tempels.
Den Bootsführer wiesen sie an, zu warten. Nini trug Wasser und Proviant und folgte ihnen schweigend. Vom dritten Ziegelbau überdauerte nur die quadratische Basis und ein Viertel des Mauerwerks die Zeit. Um die Richtung zum Tempel zu bestimmen, benötigten sie nur noch diese Markierung. Der Weg führte die Flanke eines Berges hinauf, leichter begehbar, da das Unterholz hier weniger dicht wucherte als in der Uferzone. Schließlich stießen sie auf ein enges Plateau, in unsagbarer Mühe von Menschenhand in den Hang gehackt. An die rückwärtige Felswand gedrückt, von Flechten und Moos überzogen, duckte sich ein Tempelbau aus dunklem Granit in den Schatten der Bäume. Eine aus drei Stufen bestehende Treppe führte zum Eingang. Kreisrunde Bohrlöcher im Felsuntergrund deuteten darauf hin, dass den Tempel einst einen hölzernen Vorbau geschmückt hatte. Links und rechts des Einganges reckten sich zwei steinerne Wächterfiguren. Sie drohten mit Klauen und Fangzähnen, an den Gürteln ihrer Gewänder hingen menschliche Schädel. Hinderten diese beiden Dämonen ängstliche Gemüter nicht am Betreten des Tempels, so besorgte es das andere Ding. Es lauerte einen halben Schritt hinter dem Eingang im Dunkel des Innern. Bei Nini zeigte es seine volle Wirkung. Ihr vom Sonnenlicht befeuerter Tatendrang wurde in weniger als einer Sekunde fortgeblasen.
„Da ist er wieder“, flüsterte Ellen. „Ra´sa, der Unabwendbare.“
Allein dieses steinerne Ungetüm bezeugte, dass sie sich am gesuchten Ort befanden. Mannshoch, das fürchterliche Abbild absoluter Finsternis, zwang es jeden, der eintreten wollte, sich mit dem Rücken am Torrahmen entlang seitlich vorbeizudrücken.
Conleys beängstigende Zeichnung fiel Leonard wieder ein. Und dass sie viel mehr Einzelheiten wiedergab als der wie eingefroren wirkende Steindämon. Dieser hatte Conley nicht inspiriert. Wo aber war ihm dieses Ungeheuer dann erschienen?
Sie folgten dem Weg, den ihnen der Unabwendbare vorgab, und zwängten sich an ihm vorbei in das Innere. Nini weigerte sich und wartete abseits des Tempels unter Bäumen, wo das beruhigende Sonnenlicht den Boden erreichte. Das Innere des Tempels bildeten drei Räume, die recheckige Haupthalle und an deren beiden Seiten je eine fensterlose Kammer. Der Wächterdämon und ein Gebilde, ähnlich einem Taufbecken, waren die einzigen Skulpturen. Trotzdem glänzten Ellens Augen, strahlender noch als bei der Entdeckung des Untergewölbes im Thammuyiangi. Im Gegensatz zur schmucklosen Außenfassade zierten die Wände der Halle Malereien, Reliefs und Inschriften. Begeistert breitete sie die Arme aus und drehte sich einmal um ihre Achse.
„Phantastisch!“, hallte ihre Stimme von den Wänden wider. „Das ist absolut phantastisch.“
Leonard gönnte ihr einen Moment der Schwärmerei und untersuchte den Boden der Halle. Er bestand aus dem nackten Fels des Berges.
„Also hier gibt es kein Untergeschoss.“
Restlos geplündert, dachte Leonard. Wenn dies denn einmal der Hort unermesslicher Reichtümer gewesen war. Ellen dagegen hatte ihren Schatz gefunden.
„Einiges davon ist vorbuddhistisch. Es ist viel älter, als ich dachte. Und die Inschriften!“
Ihre Stimme jubelte in der Begeisterung eines reich beschenkten Geburtstagskindes.
„Das ist Pyu. Das hier ein zentralasiatischer Dialekt. Wahrscheinlich tibetisch. Hier sind welche in Sanskrit. Mein Gott, dieser Ort muss einmal so eine Art kultureller oder spiritueller Schnittpunkt gewesen sein. Die Ostasien-Forschung wird mir das aus den Händen reißen.“
Ihre überbordende Freude steckte ihn an.
„Kannst du was damit anfangen?“
„Ja. Neben den alten Inschriften sind welche in burmesisch angebracht. Der Anordnung zur Folge könnten das Übersetzungen sein. Lass mich sehen. Gott, das ist irre.“
Sie zückte ein Notizbüchlein und begann, die Inschriften und Symbole zu übertragen. An einer Wand entdeckte Leonard ein Relief, das zwei Männer darstellte, die an einer Feuerstelle standen. Sie hielten undefinierbare Gegenstände in den Händen. Was immer es sein mochte, eines davon schmückte ein dreizackiger Stern.
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