Das Auge der Seherin
nun konnten die anderen tun, was zu tun war. Welch ein Schock aber, als sie am dritten Tag in die Kristallkugel schaute. Sie rieb den Kristall am Rock und versuchte das Bild wegzuwischen, aber es blieb beharrlich stehen.
Landen. Übel zugerichtet und in Fesseln stand er vor Vesputo im Schloss von Archeld.
Torina deckte den Kristall mit der Hand zu und sprang auf.
„Gott, hilf mir!"
Sie stürzte in die Hütte und suchte panisch nach ihrem Kopftuch. Als sie es endlich gefunden hatte, zitterten ihre Finger so sehr, dass sie es kaum schaffte, ihr Haar hochzubinden. Unfähig, einen klaren Gedanken zu fassen, sah sie sich in der Hütte um und vergaß völlig, sich mit Nahrung und Wasser zu versorgen. Sie rannte nach draußen und zwischen den Tannen hindurch die Berge hinab.
Beron näherte sich der Festung von Glavenrell, deren Umrisse sich in der Ferne abzeichneten. Der Tag war angenehm warm. Während er zügig voranritt, dachte er an sein Vorhaben. Ihn hatte Vesputo mit der wichtigen Aufgabe betraut, den Oberkönig zu ermorden! Die Belohnung würde unermesslich sein.
Beron dachte an den Tag, als Vesputo ihn in seine Elitetruppe aufgenommen hatte. Was war seither nicht alles geschehen. Vesputos Aufstieg zur Macht, die Reichtümer, die er seinen Getreuen zuteil werden ließ. Wie würde er für diese Unternehmung wohl entlohnt werden? Berons Fantasie kannte keine Grenzen. Eine leise Stimme nagte in seinem Innern und mahnte, Archeld habe Glavenrell nicht den Krieg erklärt, habe sich sogar mit dem Oberkönig verbündet. Er erinnerte sich der Lehren seines Ausbilders. Einen Verbündeten zu töten war ein schreckliches Verbrechen. Er konnte sich immer noch drücken, nach Emmendae im Norden reiten und dort untertauchen. Nein, Vesputo würde ihn überall suchen lassen wie Prinzessin Torina. Außerdem ist Vesputo mein König. Er ist ein guter König. Archeld geht es besser denn je. Könige haben immer versucht, ihr Machtgebiet zu erweitern. Es ist ihr gutes Recht.
Beron ritt vor die Tore der Festung, als Abgesandter eines verbündeten Königs eines freundlichen Empfanges gewiss. Am Kontrollpunkt machte er Halt, stieg vom Pferd und streckte sich.
„Eine dringende Botschaft, die ich dem König persönlich übergeben muss", sagte er zum wachhabenden Hauptmann. Der winkte einen Stallburschen herbei, der Berons Pferd wegführte. Beron wartete, dass seine Papiere überprüft wurden, und gähnte. Der Hauptmann untersuchte sorgfältig die Siegel, dann sagte er etwas zu den anderen Wachen und winkte Beron durch.
Zwei Soldaten geleiteten ihn in die Festung. Die großen Bogengänge und Marmorböden machten einen tiefen Eindruck auf Beron. Er versuchte, sich seine Ehrfurcht nicht anmerken zu lassen. Beim Anblick der vielen uniformierten Wachen, denen er begegnete, spürte er die Angst, die seinen Rücken hinauf bis zum Hals kroch. Vesputo hatte ihm zugesichert, das Gift, das er in winzigen
Fläschchen im Ärmel verborgen hielt, wirke so langsam, dass ihm genug Zeit bliebe, mit König Dahmis zu sprechen und anschließend die Festung zu verlassen. Nun aber fragte er sich, ob er hier jemals lebend wieder herauskäme.
Er wurde in einen Raum geführt und gebeten, auf einem prunkvollen Sessel Platz zu nehmen und zu warten. Wein wurde gebracht, nervös stürzte er einen Becher herunter. Wenn er nur einen zweiten Becher hätte, dann könnte er das Gift bereits mischen. Aber er musste warten, eine Ewigkeit wie ihm schien. Er schenkte sich nach, trank mehr, als ihm gut tat.
Als König Dahmis endlich eintrat, war er in Begleitung von General Larseid. Beron erhob sich und verbeugte sich höflich.
„Es ist mir eine Ehre, Euch zu treffen, mein König." „Mein König? Ich dachte, Ihr dient Vesputo." Dahmis Worte hatten einen entmutigenden Beiklang. „Sicher. Doch Ihr seid der Oberkönig, den auch er anerkennt." „Wirklich?"
„Natürlich, mein Herr. Und die Botschaft, die ich Euch bringe, ist nur für Eure Ohren bestimmt." Dahmis setzte sich vor Beron auf einen Stuhl und machte keine Anzeichen, den General zu entlassen. „Vielleicht kenne ich Eure Botschaft bereits." Die Stimme des Königs klang ironisch.
Beron schüttelte langsam den Kopf, er war wie benebelt und seine Angst wuchs. Wurden Ehrengäste so behandelt? Der Anblick von Tobans verzerrtem, toten Gesicht kam ihm ins Gedächtnis.
„Das bezweifle ich, Herr", antwortete er lächelnd. Es hatte den Anschein, als fielen seine Worte mit einem stumpfen Klang vor ihm auf den Boden.
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