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Das Auge der Seherin

Das Auge der Seherin

Titel: Das Auge der Seherin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Victoria Hanley
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erinnerte er sich daran, dass sie auch schon viele Stunden vor dem Tod der Großmutter vermisst worden war.
    Aufgeregt öffneten und schlossen sich seine Fäuste. Wenn sie gesehen hatte, was er beabsichtigte, dann durfte er nicht länger zögern. Sie hatte ihren eigenen Kopf.
    Nicht einmal ihr Vater hätte sie zur Ehe mit ihm zwingen können.
    Und wenn sie jetzt beim König war? Vesputo zweifelte, dass auch in den Privatgemächern des Königs nach ihr gesucht worden war.
    Der Hauptmann zwang seine Gesichtszüge wieder in ihre gewohnte Beherrschtheit und ging durch das Schloss zum König.
    König Kareed stand in dem Zimmer, welches seit Jahren sein Rückzugsort war. Die Wände waren mit glänzender Eichentäfelung aus heimischen Wäldern verkleidet, die Herdsteine stammten aus dem Steinbruch, wo er als Kind gespielt hatte.
    Vor ihm an der Wand hingen drei Gobelins, alle von den geschickten Fingern seiner Frau gewirkt. Auf einem war ein Blumenkranz über zwei gefalteten Händen zu sehen, den hatte sie für ihre Hochzeit gemacht. Ein anderer zeigte die aufgehende Sonne hinter dem vertrauten Bergkamm des Cheldangebirges. Den dritten Gobelin hatte sie erst kürzlich fertig gestellt. Er zeigte ihre Tochter Torina in ihrem Garten mit offenem, rotem Haar, umgeben von Kaskaden von Blüten. Das Bild wirkte fast unheimlich lebendig, es hatte den Anschein, als folgten ihm ihre Augen und als setze ihr Mund gerade zum Sprechen an.
    Der König hatte sich selbst ein wärmendes Feuer im Kamin gemacht und betrachtete jetzt das gewebte Porträt seiner Tochter, während vor seinem inneren Auge die Erinnerungen vorbeizogen.
    Er sah das Gesicht seiner Frau, das in Liebe erstrahlte, als das Baby ihr in die Arme gelegt wurde. Als das Neugeborene seinen Finger umklammerte, war er verzückt von der Kraft ihrer winzigen Hand. Damals dachten sie, es würden noch viele Kinder folgen. Er dachte an das lebhafte kleine Kind mit feuerroten Haaren, das ihm überall hin folgen wollte. Und später das plappernde Kind, das ihm alles erzählen musste, was es gesehen und getan hatte, als wollte sie ihm die Welt neu zeigen. Dann das launische Mädchen mit seinen ständigen Eskapaden.
    Sie hatte ihm so viel Liebe geschenkt. Starke, unschuldige Liebe. Ihr Gesicht strahlte auf wie ein hundertflammiger Leuchter, wenn sie ihn sah. Und dann ... Sie war erwachsen geworden. Sie zog jetzt andere in ihr Vertrauen. Natürlich sahen sie sich oft und jedes Mal empfand er einen stechenden Stolz. Doch sie war zurückhaltender geworden, zögerlicher, begegnete ihm mit förmlich distanzierter Höflichkeit, die ihm schier das Herz zerriss.
    Er sehnte sich danach, sie wieder hochzuheben und ihr Lachen zu hören, sie nach ihrem Tag zu fragen und alle ihre Gedanken zu teilen. Er wollte ihre trappelnden Füßchen hören, die ihm entgegenrannten, wollte ihr sein Leben vermitteln mit allem, was er getan und allem, was er ungeschehen machen wollte.
    Doch er fühlte sich ihr gegenüber befangen. Er empfand seine häufige Abwesenheit und seine Untaten als schwere Belastung, wie Steine, die, vom Mörtel unerbittlicher Staatsgeschäfte gehalten, eine unüberwindliche Mauer darstellten.
    Und Vesputo? Konnte er sie ihm anvertrauen? Vesputo, der vielversprechende, junge Befehlshaber, war die starke rechte Hand des Königs geworden. Sein Ehrgeiz stachelte ihn zu immer größeren Taten an. Ehrgeiz! Wüsste ich nur mit Bestimmtheit, dass seine Beziehung zu Torina von Zuneigung geprägt ist. Er scheint sie zu mögen, aber wenn sie nun nicht die Tochter des Königs wäre? Könnte ich nur sicher sein, dass er sie liebt!
    Aber wenn er sie nicht liebte? Einen anderen Nachfolger heranzuziehen, wäre zu spät. Warum nur diese Zweifel? Sie hatten Seite an Seite gekämpft, er hatte ihm die größten Geheimnisse seines Reiches anvertraut und dieser Heirat freudig zugestimmt.
    Die Tür wurde ohne Anklopfen aufgerissen. Verärgert drehte Kareed sich um. Torina rannte auf ihn zu.
    An ihrem Mantel hingen welke Blätter. Sie trat direkt vor ihn hin und legte schwer atmend und zitternd beide Hände auf seine Brust. Er fasste sie um die Handgelenke. Sie hob das bleiche Gesicht zu ihm empor, es war fleckig und ihre angstvoll aufgerissenen Augen waren rot gerändert.
    Beunruhigt geleitete sie der König zu seinem Sessel. Sie
    brach darauf zusammen. Er zog einen Stuhl heran und sie fasste nach seiner Hand.
    Sie war zu ihm gekommen! Sie hatte Kummer und war zu ihm gekommen! „Torina, was hast du, mein

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