Das Auge der Seherin
sie zu Boden gesunken. Sie klammerte sich an ihn, als sei er der rettende Fels in der Brandung.
Plötzlich hatte es den Anschein, als existierten die Jahre ihrer Trennung nicht mehr, und er war wieder ihr vertrauter, geliebter Freund. „Ihr glaubt, er ist ein Mörder?"
Er zuckte mit den Schultern. „Er ist das Töten gewöhnt und nur sich selbst treu."
Torina fühlte eine eisige Kälte in sich aufsteigen. Landen legte den Arm um sie. „Ich bringe Euch hinein."
Er führte sie über den Friedhof. Der Wind wurde stärker und wirbelte die Grabblumen auf. „Aber Ihr seid stärker als Vesputo?"
„Nicht stärker als eine Armee von Kriegern, die den Mord an ihrem König rächen wollen." „Mein Vater! Ich muss sogleich zu ihm!" Sie eilte weiter, zu müde zum Rennen, zu aufgeregt, um auf den richtigen Weg zu achten. Landen führte sie. „Ihr müsst nicht fort, Landen. Ich sage ihnen die Wahrheit."
„Tut das. Aber der Wahrheit will ich mein Leben nicht anvertrauen. Die Wahrheit konnte auch meinen Vater nicht retten."
Darauf wusste sie keine Antwort und beschleunigte ihre Schritte.
Er trat ihr in den Weg und zeigte auf das Schloss, das jetzt, als sie eine kleine Anhöhe hinter dem Friedhof erklommen hatten, deutlich zu sehen war. „Wenn Vesputo zuschlägt, seid Ihr ihm ausgeliefert." Tiefe Sorge sprach aus seinem Gesicht. „Wenn Ihr das alles gewusst habt, warum seid Ihr nicht früher eingeschritten?"
„König Kareed ist nicht mein Vater", erwiderte er ruhig, „und was Vesputo betrifft, ist er blind, so blind wie Ihr es wart. Meint Ihr, ich müsste sein Mordgeschäft übernehmen?"
Sie biss sich auf die Lippen. „Nein, nein. Ihr habt Recht, Landen."
Sie eilten weiter. „Ihr beabsichtigt Vesputo anzuzeigen?",
fragte er.
Ja, natürlich."
„Bitte seid sehr vorsichtig. Verrat ist niemals das Geschäft eines Einzelnen. Wer weiß, welche Versprechungen er seinen Anhängern gemacht hat?" Oh, Papa. Was ist mit unserem Königreich geschehen! Wir haben dem Verrat Tür und Tor geöffnet. „Wer sind seine Anhänger?"
„Beron zum Beispiel. Seht vor, wem Ihr Vertrauen schenkt, Prinzessin."
Obwohl er flüsterte, schwang deutlich Sorge in seiner klaren Stimme.
„Und Ihr? Kann ich Euch vertrauen?"
„Ihr wisst es. Auch wenn es viele geben wird, die aus mir
Euren schlimmsten Feind machen wollen, wenn ich fort
bin."
„Wer weiß noch von Eurem Plan?" „Niemand weiß, dass ich heute aufbreche. Die Freunde, die mich gewarnt haben, glauben, ich ginge in Kürze."
Sie näherten sich der Stelle, wo der Weg vom Friedhof die Hauptstraße kreuzte. Die Straße war voller Menschen, die zur großen Festhalle strömten. Landen führte Torina zur Seite, unter die Bäume. „Warum habt Ihr es mir gesagt?", fragte sie. Seine Hand ruhte leicht auf ihrem Ellbogen. „Weil wir zusammen Kinder waren", antwortete er.
„Oh." Sie zögerte einen Moment. „Und Ihr wollt wirklich in der Fremde leben?"
Er sah sie bitter an. „Ich lebe seit meiner Kindheit in der Fremde."
Sie schwieg. Wie mochte es gewesen sein, so jung alles zu verlieren?
Wie ich heute. Nur habe ich immer noch meine Eltern. Mein Vater! Ich muss mit ihm sprechen.
„Nehmt den Hengst", drängte sie jetzt, „ich schenke ihn Euch."
Landen lächelte. „Danke." Er blieb stehen als der Wald lichter wurde. „Hier. Ihr könnt den Hintereingang nehmen."
Sie eilte an ihm vorbei, blieb aber gleich wieder stehen. „Wann brecht Ihr auf?"
„Sobald ich einen Besuch im Stall gemacht habe." Sie ging zu ihm zurück und zog einen kleinen, goldenen Ring vom Finger, in dem ein winziger Kristall gefasst war. Ancilla hatte ihn im vergangenen Jahr für sie machen lassen, und sie hielt ihn in großen Ehren. „Bitte. Nehmt diesen Ring von mir." Landen ließ ihn in eine Tasche gleiten. Dann griff er in die Innenseite seines Umhangs. „Ich danke Euch. Auch ich habe etwas für Euch." Er zog die Kristallkugel hervor. Sie nahm sie und er ergriff ihre Hände, so dass die Kugel in ihrer beider Hände ruhte. In seinen Augen stand eine Frage. Aber er zog nur ihre Hände an seine Lippen.
„Lebt wohl, Prinzessin."
Er ging und Torina sah ihm nach wie gelähmt. Doch gleichzeitig war sie überwältigt, den Kristall, den sie fortgeworfen hatte, wieder in Händen zu halten. „Lebt wohl", sagte sie, als könnte er sie noch hören. Sie hielt den Kristall fest und starrte hinein. Sie hatte sich von ihrer Gabe als Seherin befreien wollen, aber durch Landen war sie ihr zurückgegeben worden.
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