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Das Auge der Seherin

Das Auge der Seherin

Titel: Das Auge der Seherin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Victoria Hanley
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noch nicht. Und Ihr müsste jetzt los." Sie gaben sich die Hände.
    „Danke, Eric, vielen Dank. Setzt nicht Euer Leben aufs Spiel, aber wenn es Euch irgend möglich ist, dann, bitte, lasst meine Mutter wissen, dass ich lebe." Er nickte. „Lebt wohl, Prinzessin."
    Sie warf ihm eine Kusshand zu, stieß Amber die Knie in die Seiten und trabte davon.
    Vesputo stand neben dem leeren, hölzernen Bettkasten und hielt die Haube mit dem roten Zopf in der Hand. Irene saß benommen auf dem Bett, die Hände vor das Gesicht geschlagen, und weinte. Von ihrem Kopf staksten blonde Haarstoppeln ab. Neben ihr stand Toban, sein Kopf schwankte vor und zurück. Hinter ihm stand Beron.
    „Sie hatte ihr Kleid an. Sie hatte ihre Frisur!", schrie Toban.
    Irene schluchzte laut auf.
    „Was genau hat sie zu dir gesagt?" Vesputos Stimme knirschte wie zersplitterndes Eis.
    Toban dachte nach. „Wartet. Wartet." Er ging einige Male zur Tür zurück, dann nickte er, schwenkte zwei Finger durch die Luft und blieb stehen.
    „Ich hab's. Sie hat mit zwei Fingern gewinkt. Genau wie Irene. Gesagt hat sie nichts."
    Irene stöhnte auf und fuhr sich über den armseligen Haarschopf.
    „Sei still!", fuhr Vesputo sie an, worauf sie ihr Schluchzen unterdrückte. „Toban, wer weiß sonst von dieser Sache?"
    „Niemand außer uns."
    Vesputo ging auf und ab, die Zeigefinger ineinander verhakt. Nach einer Weile blieb er vor Irene stehen und packte sie an den Schultern.
    „Irene, das Hochzeitskleid ist fertig, hast du gesagt?" Sie nickte und schniefte.
    „Dann wirst du es eben tragen. Heute wird geheiratet wie geplant. Du nimmst die Stelle der Braut ein und trägst einen Schleier. Der rote Zopf wird die Gäste überzeugen."
    Irene starrte ihn entgeistert an. „Heiraten?"
    Ja, meine Liebe."
    „Und was ist mit der Prinzessin?"
    „Man wird sie finden und zurückbringen. Sie wird die offizielle Königin sein, aber die eigentliche Königin bist du. Beron, schaff Mavell herbei, den alten Priester mit den schwachen Augen. Und dann komm zu den Ställen. Toban, du bringst der Königin einen starken Trank. Sie muss zu krank sein, um an der Zeremonie teilnehmen zu können, denn sie würde sich nicht täuschen lassen."
    Die beiden Männer gingen. Vesputo setzte sich auf das Bett neben Irene. „Ich nehme an, meine Liebe, dass du gestern Nacht, als du bewusstlos warst, den Kristall nicht mit in den Mondschein hinausgenommen hast." Irene jammerte. „Nein, mein Herr." „Dann müssen wir bis zum nächsten Vollmond warten, bis dir im Traum die Zukunft erscheint?" „N-nein, mein Herr." Ihre Zähne schlugen aufeinander.
    „Warum nicht?"
    „W-weil der Kristall in meinem Kleid war. Ich hatte ihn dabei. Und Torina hat mein Kleid genommen." „Torina hat den Kristall?"
    „So." Seine Augen verfinsterten sich.
    Er stand auf und ging. Irene blieb weinend zurück.
    Während Eric seine Wachrunden drehte, gingen ihm ständig Torinas Worte durch den Kopf. Solange sie neben ihm gestanden hatte, hatte er nur daran denken können ihr die Flucht zu erleichtern. Doch als sie fort war, überfiel ihn die ganze Konsequenz seines Tuns. Er hatte Angst. Wahrscheinlich war er der Einzige, der die Wahrheit kannte.
    Zu wem soll ich gehen ? Wer wird mir glauben ? Wer wird etwas tun, wenn ich es preisgebe? Vertraue ich mich dem Falschen an, werde ich getötet. Sage ich es dem Richtigen, wird ein Bürgerkrieg das Land spalten.
    Als der Morgen anbrach, wurde Eric von Ward, einem alten Soldaten, abgelöst. Ward hatte schon unter Kareed gedient, als dieser noch ein kleines Kind war. Eric war versucht, ihm von den Ereignissen der vergangenen Nacht zu erzählen und seinen Rat zu hören, bedachte sich aber eines Besseren.
    Als er erwähnte, Irene habe Amber im Auftrag Vesputos geholt, schüttelte Ward erstaunt seinen grauen Kopf. Eric ging in seine Unterkunft und legte sich schweißnass vor Angst nieder.
    Weit fort, auf der anderen Seite der Ebene, trabte Amber. Sein bernsteinfarbenes Fell vermischte sich mit den hohen, goldenen Gräsern des Spätherbstes. „Wenn wir Glück haben, sehen wir aus wie eine braune Staubwolke, die der Westwind vor sich herbläst", murmelte Torina.
    Sie suchte die Landschaft nach einem Fluss ab. Sie war in Landschaftskunde unterrichtet worden und wusste, dass von den Bergen im Osten viele kleine Wasserläufe in Richtung Meer flossen. Und hinter den Bergen lag Desante. Die Nacht war lang und kalt gewesen. Torina zog die Satteldecken enger um ihre Schultern. Noch nie zuvor

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